Zusammenfassung
Kopfschmerzen sind sowohl ein verbreitetes Symptom als auch oft genug in sich ein Erkrankungsbild, das zu Leidensdruck, Behinderung und gesamtökonomisch hohen Kosten führt. Die medikamentöse Therapie wirkt oft nur unzureichend oder bringt andere Limitationen mit sich. Die Anwendung von Strom erschien bereits im 19. Jahrhundert eine vielversprechende Behandlungsmethode zu sein und auch aktuell wird zur Anwendung der tDCS bei dieser Indikation geforscht. Diese Arbeit gibt eine Übersicht sowohl über die während der ersten Blütezeit der Elektrotherapie Ende des 19. Jahrhunderts als auch über die in der kontemporären Forschung erschienenen Studien, die sich mit der Anwendung schwacher elektrischer Ströme zur Therapie oder Prophylaxe von Kopfschmerzen auseinandersetzen. Es zeigt sich, dass vorrangig vielversprechende Behandlungserfolge präsentiert werden, wobei die Fallzahlen oft gering und die eingesetzten Stimulationsmethoden sehr heterogen sind. In Summe scheint die elektrotherapeutische Anwendung zur Therapie von Kopfschmerzsyndromen ein auf eine lange Tradition zurückblickender, interessanter Forschungszweig und Therapieansatz zu sein, wobei noch weitere Forschung notwendig ist, sowohl bezüglich der technischen und klinischen Details der Durchführung der Stimulation als auch hinsichtlich der verschiedenen Indikationen.
Abstract
Headache can be a widespread symptom as well as a disorder in itself. Headache syndromes such as migraine cause a lot of distress, disability and overall socioeconomic costs. Pharmacological treatments are often limited in their efficacy as well as due to side effects. The therapeutic application of electricity for this medical indication was a relevant field of research in the 19th century and—in the form of transcranial direct current stimulation (tDCS)—is still widely studied today. This paper provides an overview of publications from the late 19th century (as the era of discovery and success of electrotherapy) as well as contemporary studies investigating the usage of weak currents for the treatment or prophylaxis of headache. Our results show a large number of highly favorable reports of treatment successes. However, the number of cases analysed is often rather small and the forms of electric stimulation applied were often highly heterogeneous. In summary, electric stimulation appears to be a promising field of research and a possible therapeutic agent for the treatment of headaches; however, further research is necessary, especially into the details of the stimulation techniques applied and the various indications in which it may be of use.
Trotz ihrer Verbreitung sind Kopfschmerzen immer noch ein Phänomen, dessen Therapie sich oft schwierig gestaltet. Dabei blickt die Anwendung schwacher Ströme als Therapeutikum auf eine lange, wenn auch unterbrochene Forschungstradition zurück und scheint ein erforschens- und beobachtenswerter Ansatz zu sein. Für eine abschließende solide wissenschaftliche Aussage über den unzweifelhaften Erfolg liegen aber nach wie vor zu wenige korrelative Studien und damit verlässliche Daten vor. In dieser Arbeit werden wissenschaftliche Publikationen zur Elektrotherapie aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und zeitgenössische Studien zur Anwendung von transkranieller Gleichstromstimulation (tDCS) bei Kopfschmerzen identifiziert, gegenübergestellt und diskutiert.
Hintergrund
„Der Schmerz ist das wichtigste aller Krankheitssymptome, er treibt den Kranken zum Arzt und dieser soll vor allem Schmerzen vertreiben oder lindern“, schrieb der Nervenarzt Paul Julius Möbius 1880 [27, S. 501], und diese Beobachtung bleibt bis heute gültig. Kopfschmerzen sind ein häufiges Symptom und oft auch bereits in sich ein Erkrankungsbild. Mit einer 1‑Jahres-Inzidenz von 46 % und einer Lebenszeitprävalenz von 64 % [24] gehören Kopfschmerzen zu den verbreitetsten gesundheitlichen Beschwerden. Kopfschmerzsyndrome stellen eine relevante Ursache für Behinderung dar [46] und verursachen zwar nicht vorrangig durch ihre Behandlung, aber insbesondere durch Arbeitsausfälle und geringere Produktivität erhebliche Kosten [20]. Zudem sind sie häufig mit Angst- und depressiven Symptomen assoziiert [19] und korrelieren oft mit Arbeitslosigkeit oder geringem Einkommen [8]. Die pharmakotherapeutische Behandlung mit akut wirksamen Medikamenten (z. B. nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen, Acetylsalicylsäure und Naproxen oder Triptane) ist oft durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei längerer Einnahme sowie die Entwicklung eines medikamentös induzierten Kopfschmerzes bei häufigem Gebrauch [49] limitiert. Zudem ist beispielsweise bei Migräne nur bei etwa der Hälfte der Patienten die akute analgetische Wirkung zufriedenstellend [7]. Die medikamentöse Prophylaxe von Kopfschmerzepisoden ist oft ebenfalls mit erheblichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen [35] und einer geringen Adhärenz von Patientenseite [6] verbunden. Verhaltenstherapeutische Ansätze in der Behandlung von Kopfschmerzsyndromen sind oft auch durch mangelnde Patientenadhärenz und geringe Bereitschaft zur Inanspruchnahme in ihrer Wirksamkeit begrenzt [39].
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass nichtmedikamentöse somatische Therapieverfahren bei Kopfschmerzsyndromen sich eines großen Forschungsinteresses erfreuen. Ein Verfahren, das in den letzten 20 Jahren vielfach untersucht wurde, ist die tDCS. Sie ist in ihrer Anwendung kostengünstig, komplikationsarm und stellt einen Hoffnungsträger in der Behandlung verschiedenster neuropsychiatrischer Erkrankungen dar. In den kontemporären Veröffentlichungen bleibt jedoch meist unerwähnt, dass dieses Verfahren auf eine über 140-jährige medizinwissenschaftliche Tradition zurückblickt [44]. Bereits in den 1870er-/1880-Jahren erlebte unter der Bezeichnung „Elektrotherapie“ die transkutane Anwendung von schwachen elektrischen Strömen einen regelrechten Boom in der Humanmedizin, vorrangig bereits damals bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungsbildern, jedoch auch bei Stoffwechselstörungen (Diabetes, Gicht, Morbus Basedow), gynäkologischen Erkrankungsbildern und sogar Tumoren.
Aufgrund der oft von den heutigen Bezeichnungen abweichenden historischen Terminologie und damals weitestgehend fehlenden Standardisierung ist es schwierig, eine genaue Darstellung der Ende des 19. Jahrhunderts verwendeten Technologien zur Durchführung der Elektrotherapie zu geben. Grundlegend fanden drei Arten der Anwendung von elektrischem Strom im Rahmen der Elektrotherapie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Verwendung: Galvanisation, Franklinisation und Faradisation. Hierbei war in Summe die Galvanisation bei neurologischen und psychiatrischen Indikationen das am weitesten verbreitete Verfahren [45].
Im Rahmen der Galvanisation wurde ein schwacher, aber hochgespannter Gleichstrom angewendet. Der Strom wurde hierbei mithilfe von galvanischen Elementen – in der Regel Zink-Kohlenstoff-Zellen, manchmal auch Zink-Kupfer-Zellen – erzeugt und über zwei Elektroden, die in der Regel aus einem Zink- und einem Kupferblech bestanden und über einen übersponnenen Kupferdraht miteinander verbunden waren, in den menschlichen Körper geleitet. Bei der Franklinisation erfolgte die Behandlung mittels statischer Elektrizität, die mithilfe des Phänomens der Influenz (oder auch elektrostatischen Induktion) durch eine sogenannte Influenzmaschine generiert wurde. Die Faradisation dagegen setzte keinen konstanten, sondern einen unterbrochenen, rasch pulsierenden Gleichstrom ein, der im physikalischen Sinne einem unsymmetrischen Wechselstrom entspricht. Die Erzeugung des Stroms erfolgte durch elektrische Induktion, sodass auch die hierbei Verwendung findende Technologie die Bezeichnung Induktionsapparat erhielt [45].
Ziel dieser Arbeit ist es, eine Übersicht über die historischen wie auch kontemporären Studien, die sich mit der Anwendung schwacher elektrischer Ströme zur Therapie und/oder Prophylaxe von Kopfschmerzen befassen, zu geben sowie Parallelen und Unterschiede hinsichtlich ihrer Indikationen, Stimulationsmethodiken und Behandlungserfolge herauszuarbeiten. Hierbei handelt es sich nicht um eine systematische, methodisch strikt umgesetzte Metaanalyse, vielmehr ist der Anspruch dieses Artikels, auf die historischen Kontinuitäten, aber auch Entwicklungen in der Anwendung elektrotherapeutischer Verfahren in der Behandlung von Kopfschmerzen aufmerksam zu machen.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Im Rahmen dieser Arbeit wurden wissenschaftliche Kasuistiken und Studien zur Anwendung von schwachen elektrischen Strömen bei Kopfschmerzen, die während der ersten Hochphase der Elektrotherapie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen, identifiziert und hinsichtlich der spezifischen Aspekte der Indikation, der angewendeten Behandlung und des Behandlungserfolgs ausgewertet. Zudem wurden kontemporäre wissenschaftliche Publikationen über die Anwendung der tDCS bei Kopfschmerzen recherchiert und ebenfalls im Hinblick auf die Stimulationsformen und das Behandlungsoutcome analysiert.
Ausgangspunkt für die Literaturrecherche zur historischen Elektrotherapie waren die Bände der Rezensionszeitschrift „Schmidts Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin“ der Jahre 1882 bis 1901. Hierin erschien alle paar Jahre die Sammelbesprechung „Ueber neuere elektrotherapeutische Arbeiten“, in der alle dem Rezensenten in den vorherigen Jahren bekannt gewordenen (dadurch – wie z. B. 1882 – zum Teil auch einige Jahre in ihrer Erstveröffentlichung zurückliegenden) Publikationen zum Thema aufgelistet und zum Teil auch kurz inhaltlich dargestellt und beurteilt wurden. In den Jahren 1882, 1884, 1887, 1888 und 1891 zeichnete der bekannte Leipziger Nervenarzt und Wissenschaftspublizist Paul Julius Möbius für diese Sammelbesprechungen verantwortlich. Im Jahre 1897 besprach der Uchtspringer Anstaltsdirektor Konrad Alt und 1901 der niedergelassene Leipziger Nervenarzt Franz Winterscheid die betreffende Literatur. Alle in diesen Jahren aufgelisteten Kasuistiken oder Studien, die sich mit der elektrotherapeutischen Behandlung von Kopfschmerzen – sei es als alleinstehendes Krankheitsbild oder als prominentes Symptom im Rahmen einer weiteren Erkrankung – befassten, wurden im Original in Gänze inhaltlich erfasst, analysiert und einander in wichtigen Eckpunkten gegenübergestellt (Tab. 1).
Die aktuellen Studien wurden mithilfe einer Literaturrecherche unter Verwendung der Datenbanken PubMed und MEDLINE mit dem Stichtag 31.10.2021 identifiziert. Dabei wurde die Suchbegriffkombination „(tDCS AND migraine) OR (tDCS AND headache)“ verwendet. Die so gewonnenen Suchergebnisse wurden im Titel und gegebenenfalls Abstract gescreent und alle Studien eingeschlossen, die die Anwendung von tDCS als Therapeutikum bei jedweden Kopfschmerzsyndromen untersuchten. Hierbei wurden nur klinische Studien berücksichtigt und Reviews ausgeschlossen (Abb. 1). Die Recherche und das Filtern der Ergebnisse erfolgten durch den Erstautor, bei Unklarheiten berieten sich beide Autoren bezüglich des Ein- oder Ausschlusses von Artikeln. Diese Funde wurden dann im Volltext inhaltlich erschlossen und hinsichtlich der Eckpunkte des Studiendesigns und der Ergebnisse erfasst (Tab. 2).
Ergebnisse
Insgesamt wurden infolge unserer Literaturrecherche 15 historische Veröffentlichungen identifiziert, die anhand von Kasuistiken oder Fallserien von der Elektrotherapie bei Kopfschmerzen berichteten. Die umfangreichste Stichprobe beinhalteten Arthur Sperlings „Elektrotherapeutische Studien“ [40] mit 15 Patienten, jedoch behandelten vier der eingeschlossenen Publikationen dagegen nur eine einzelne Patientenkasuistik, drei Werke gaben wiederum keine genaue Angabe der Patientenzahl. Setzt man voraus, dass die Studien ohne Angabe einer Patientenzahl mindestens die Behandlung eines Kranken umfassen müssen, ergibt sich eine Gesamtzahl von 59 Patienten. Am häufigsten (siebenmal) wurde die Galvanisation angewendet, aber auch die anderen beiden beliebten Stimulationsmethoden – die Franklinisation und die Faradisation – sind mit fünf bzw. vier Studien präsent. Dabei beschreibt der russisch-amerikanische, seit 1868 in New York praktizierende Nervenarzt William Basil Neftel sowohl die Anwendung der Faradisation als auch der Galvanisation [28]. Fünf Studien behandelten Patienten mit Migräne, der „neurasthenische Kopfschmerz“ ist ebenfalls in fünf Studien Indikation für die Therapie. In drei Arbeiten waren die Kopfschmerzen Begleitsymptome anderweitiger psychiatrischer Erkrankungen, zwei widmen sich dem „congestiven Kopfschmerz“. Dabei ist zu erwähnen, dass oft Patienten mit unterschiedlicher Genese des Kopfschmerzes in einem Werk behandelt werden oder teilweise nicht auf die Genese oder Einteilung des Kopfschmerzes eingegangen wurde. Die eingesetzte Dauer der Stimulation variiert von einer Minute bis 30 min, wobei circa zwei Minuten und circa 20 min am häufigsten repräsentiert sind. Die jeweiligen Anzahlen der insgesamt durchgeführten Behandlungen lagen zwischen zwei bis über 40, wobei – sofern eine Gesamtanzahl der Behandlungen genannt wird – diese sich meist im Bereich von 15 bis 30 Anwendungen bewegt. Hinsichtlich der Behandlungsresultate der Elektrotherapie dominieren Berichte von Genesung oder zumindest sehr guten Teilerfolgen. Es werden insgesamt lediglich vier Patientenfälle aufgeführt, bei denen die Behandlung auf die Kopfschmerzen keinen Effekt hatte oder gar zu einer Verschlechterung der Symptomatik geführt hatte. Vier Veröffentlichungen beschreiben allerdings eine Reihe von Fällen, bei denen es im Verlauf zu Rezidiven kam, die dann meist jedoch gut auf eine Wiederaufnahme der Behandlung ansprachen. Keine der historischen Publikationen operierte mit einer Kontrollgruppe, es wurden höchstens Vergleiche von verschiedenen Methoden der elektrotherapeutischen Anwendungen durchgeführt.
Bei der Suche nach kontemporären Studien wurden 20 Publikationen identifiziert. Diese umfassten von neun bis 135 Probanden, wobei die meisten Stichproben sich in der Größenordnung von 13 bis 50 Probanden bewegten. In Summe hatten die eingeschlossenen Studien 744 Probanden. Obwohl im Rahmen der Literaturrecherche gezielt nach allen Kopfschmerzformen gesucht wurde, behandelte ein erheblicher Großteil der Veröffentlichungen (17 Studien) die Kopfschmerzform der Migräne – fünf davon explizit die chronische Form, fünf explizit die episodische Form, zwei in der Kombination mit medikamentös induziertem Kopfschmerz, alle restlichen Studien machten keine Angabe über die Migräneform. Nur in zwei Studien wurden Spannungskopfschmerzen untersucht, jeweils eine Publikation widmete sich Clusterkopfschmerzen, zervikogenen Kopfschmerzen und dem ausschließlichen medikamentös induzierten Kopfschmerz. Da als Stimulationsart die tDCS unser Eingangssuchkriterium war, ist sie bei allen 20 Studien die eingesetzte Therapiemethode. Allerdings ist eine große Varianz an Stimulationsformen hinsichtlich der Polarität der Stimulation (kathodal oder anodal) und der Positionierung der Elektroden repräsentiert. Die häufigsten Stimulationselektrodenpositionen waren über dem Motorkortex (zehn Studien, sieben davon anodale Stimulation und drei kathodal) und okzipital (sieben Studiendesigns, fünf davon kathodal und zwei anodal). Darüber hinaus waren aber auch die (prä-)frontale Stimulation und die Positionierung über dem dorsolateralen präfrontalen Kortex sowie die spinale Positionierung und diejenige über der thermografisch identifizierten kältesten Stelle am Kopf vertreten. Zwei Studien machten keine Angabe bezüglich der Stimulationsorte. Insgesamt wurde 14 Mal anodal und neun Mal kathodal stimuliert. Hinsichtlich der Anwendungsdauer zeichnet sich eine größere Vereinheitlichung ab, mit zwölf Studien, die 20 min Stimulationsdauer einsetzten, die restlichen verteilten sich auf Zeiträume zwischen zehn und 45 min. Bezüglich der Gesamtanzahl der Behandlungen gab es jedoch eine erhebliche Streuungsbreite von drei Mal bis über 50 Mal (dabei waren zehn bis 20 Anwendungen am häufigsten vertreten). Vier Studien arbeiteten ohne Kontrollgruppe, 14 nutzten (meist sogar doppelt verblindet) die Placebostimulation als Kontrollgruppe, zwei Veröffentlichungen hatten Kontrollgruppen mit ausschließlich physiotherapeutischer bzw. pharmakologischer Behandlung zum Vergleich. 13 Publikationen berichten von einer erheblichen Symptomverbesserung, sechs zumindest von einer Besserung einzelner Parameter oder nur bei einem Teil der Probanden. Eine Studie fand keine Verbesserung der Kopfschmerzen durch tDCS im Vergleich zur Kontrollgruppe, dabei erscheint es interessant zu vermerken, dass dies die Studie mit den meisten Probanden war [17]. In drei Aufsätzen wurden explizit das Nachlassen der Wirkung über die Zeit und Rezidive erwähnt.
Diskussion
Die Ergebnisse sowohl der historischen elektrotherapeutischen Arbeiten als auch der Publikationen zur modernen tDCS als ihrem kontemporären Erbe legen nahe, dass mit der medizinischen Applikation von Strom vielversprechende, wirksame Ansätze zur Behandlung von diversen Kopfschmerzsyndromen verbunden sein könnten. Allerdings wird die Aussagekraft der Studien durch ihre bisher vorliegenden eher kleinen Stichproben geschmälert. Insbesondere die historischen Quellen basierten oft auf der Behandlung einzelner oder weniger Patienten, da es der damaligen, eben nicht umfangreiche empirische und evaluierbare Daten sammelnden Forschungsmethodik entsprach, gerade bei neuartigen Therapiemethoden detailliert einzelne Behandlungsgeschichten und -erfolge zu berichten. Darauf, dass hierbei vielfach ausschließlich die Erfolge und nicht die Misserfolge dokumentiert und veröffentlicht wurden, weist Neftel 1890 sogar selbst direkt hin: „Da ein einziger positiver Fall mehr Interesse darbietet, als zahlreiche negative, so führe ich beispielsweise den folgenden an“ [28, S. 133]. Doch auch die kontemporären Studien wurden häufig mit wenig Patienten durchgeführt. Alhassani et al. präsentieren die Daten von nur neun [2], andere Autoren bringen Daten von nur 20 bis 30 Probanden bei. Was an dieser Stelle auch nicht unerwähnt bleiben darf, ist die Tatsache, dass die Publikation mit der deutlich größten Probandenanzahl auch diejenige ist, die als einzige keinerlei Wirksamkeit der tDCS auf Kopfschmerzen nachweisen konnte [17]. Während die Ärzte des 19. Jahrhunderts durchgehend ohne Kontrollgruppen arbeiteten, war die Frage von Placebowirkung und Heilung durch „Suggestion“ im damaligen wissenschaftlichen Diskurs doch gerade erst neu aufgeworfen worden und heiß umstritten [43], so nutzt nun eine überwiegende Mehrheit der modernen Studien verblindete Kontrollgruppen mit Placebostimulationen, um gerade den Effekt einer Symptomlinderung durch den Glauben an die Therapie oder andere einflussnehmende Variablen herausrechnen zu können.
Beim Vergleich aller analysierten Arbeiten fällt sofort auf, dass es sowohl im 19. Jahrhundert als auch jetzt wieder eine erstaunlich große Heterogenität in der technischen und klinischen Durchführung der Stimulationsbehandlung gibt. Wurden in den historischen Publikationen noch verschiedene Arten der elektrischen Stimulation (Galvanisation, Franklinisation, Faradisation) angewandt, hat sich in der kontemporären Medizin zwar die tDCS als maßgeblich verbreitetste Form der Stromapplikation herausgebildet, aber die Polarität der Stimulation (anodal oder kathodal) und die Positionierung der Elektroden (frontal, Motorkortex, okzipital) variieren von Studie zu Studie erheblich. Trotz dieser vielfältigen Stimulationstechniken und der ihnen zugrunde liegenden Ansätze und Konzepte zur Möglichkeit der Schmerzmodulation werden dabei aber nahezu durchgehend Erfolge berichtet.
Bei dem Versuch, die historischen und modernen Arbeiten systematisch miteinander zu vergleichen, offenbarte sich uns das Problem des Wandels der verschiedenen Theorien zur Ätiologie des Kopfschmerzes und die sich daraus ergebende Klassifikation von Kopfschmerzsyndromen. Unterscheidet man heute zwischen Migräne, Spannungskopfschmerzen, Clusterkopfschmerzen, zervikogenen Kopfschmerzen und dem Sonderfall des medikamentös induzierten Kopfschmerzes, waren die Kategorien im 19. Jahrhundert durchaus anders. Die Migräne war als diagnostische Entität bereits damals etabliert [38], jedoch waren „neurasthenischer Kopfschmerz“ und „congestiver Kopfschmerz“, dem die Genese eines Blutstaus im Kopf zugeschrieben wurde, in der medizinischen Literatur der Epoche ebenfalls verbreitete Diagnosen, denen man heute schwer ein entsprechendes Pendant zuweisen kann. Auffällig ist des Weiteren bei den kontemporären Studien, dass sich ein Großteil ausschließlich mit der Migräne als Kopfschmerzsyndrom befasst, obgleich Kopfschmerzen, die gemäß der heutigen Klassifikation dem Spannungskopfschmerztyp zugeschrieben werden, verbreiteter sind und deshalb in Summe ein größeres Ausmaß an Behinderung verursachen [46]. Was der Hintergrund dieses Fokus der Forschung auf die Migräne ist, bleibt unklar.
Eine Fragestellung, auf die sowohl die historischen als auch die zeitgenössischen Quellen nur wenig eingehen, ist die nach der langfristigen Wirksamkeit elektrotherapeutischer Methoden. Der Beobachtungszeitraum betrug im 19. Jahrhundert oft nur die Dauer der Behandlung und auch in den modernen Studien wurden die Symptome oft nur wenige Wochen bis Monate nach Beendigung des Behandlungszyklus erhoben. Einige Arbeiten erwähnten zwar Rezidive oder ein Nachlassen der schmerzstillenden Wirkung im Verlauf der Zeit, eine systematische Betrachtung dieser Frage fehlte und fehlt jedoch damals wie heute.
An dieser Stelle sollen auch die Limitationen unserer Arbeit erwähnt werden. Sowohl für die Identifikation der historischen als auch für die Identifikation der kontemporären Quellen wurde jeweils nur ein Ausgangspunkt für die Recherche genutzt – „Schmidts Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin“ respektive PubMed und MEDLINE. Zudem war die Publikationsauswahl (mit der Ausnahme von Calonius’ Studie [9], für die aus dem Finnischen eine maschinelle Übersetzung angefertigt wurde) auf deutsch- und englischsprachige Werke beschränkt. Des Weiteren erfolgte bei den kontemporären Studien eine Beschränkung auf tDCS als untersuchte Stimulationsmethode, welche zwar die verbreitetste, aber mitnichten die einzige Form der modernen Elektrotherapie ist [30]. Unser Motiv liegt darin begründet, dass die tDCS den historischen Techniken der Stromverabreichung am nächsten kommt und wir eine Kontinuität dieser Therapiemethode und deren Problematiken in der Schmerzmedizin sehen und vermitteln wollten. Somit erhebt diese Arbeit aber keineswegs den Anspruch auf eine umfassende Wiedergabe sämtlicher Literatur auf dem Feld der Elektrotherapie der Kopfschmerzen. Viel eher war es unsere Absicht, einen Einblick in die Erforschung dieses Themas in der ersten Blütezeit der Elektrotherapie im 19. Jahrhundert sowie heute zu geben und diese oft voneinander getrennt gedachten und betrachteten Felder zusammenzuführen und zu vergleichen.
Fazit für die Praxis
Elektrotherapeutische Ansätze zur Behandlung von Kopfschmerzen blicken auf eine über 140-jährige Geschichte zurück und werden aktuell wieder vielfach erforscht. Die Ergebnisse ihrer Anwendung präsentieren sich in den Artikeln damals wie heute als vielversprechend, allerdings arbeiten Studien, die sich dieser Therapieform widmen, oft mit einer geringen Fallzahl. Zudem fällt eine große Heterogenität der Stimulationsmethodiken auf. Dazu kommt, dass andere Kopfschmerzsyndrome als Migräne insbesondere in der kontemporären Forschung wenig Beachtung finden. Um mit größerer Gewissheit über den Nutzen dieses Behandlungsansatzes sprechen zu können, aber auch um die bestmöglich geeignete Stimulationsform zu identifizieren, sind weitere, umfangreichere Studien vonnöten. Die Beschäftigung mit der Elektrotherapie des 19. Jahrhunderts würdigt dabei nicht nur den Ausgangspunkt dieses medizinischen Felds, sondern kann auch hilfreiche Impulse für die aktuelle Forschung geben.
Literatur
Ahdab R, Mansour AG, Khazen G et al (2019) Cathodal Transcranial direct current stimulation of the occipital cortex in episodic migraine: a randomized sham-controlled crossover study. J Clin Med 9:60
Alhassani G, Treleaven J, Schabrun S (2017) Combined transcranial and trans-spinal direct current stimulation in chronic headache: A feasibility and safety trial for a novel intervention. Hongkong Physiother Journal 37:1–9
Andrade SM, de Brito Aranha R, de Oliveira EA et al (2017) Transcranial direct current stimulation over the primary motor vs prefrontal cortex in refractory chronic migraine: A pilot randomized controlled trial. J Neurol Sci 378:225–232
Antal A, Kriener N, Lang N et al (2011) Cathodal transcranial direct current stimulation of the visual cortex in the prophylactic treatment of migraine. Cephalalgia 31:820–828
Auvichayapat P, Janyacharoen T, Rotenberg A et al (2012) Migraine prophylaxis by anodal transcranial direct current stimulation, a randomized, placebo-controlled trial. J Med Assoc Thai 95:1003–1012
Berger A, Bloudek LM, Varon SF et al (2012) Adherence with migraine prophylaxis in clinical practice. Pain Pract 12:541–549
Bhirata K, Ueda K, Ye W et al (2020) Factors associated with insufficient response to acute treatment of migraine in Japan: analysis of real-world data from the Adelphi Migraine Disease Specific Programme. BMC Neurol 20:274
Burch R, Rizzoli P, Loder E (2021) The prevalence and impact of migraine and severe headache in the United States: Updated age, sex, and socioeconomic-specific estimates from government health surveys. Headache 61:60–68
Calonius M (1879) Elektrotherapie bei Epilepsie und heftigem Kopfschmerz. Finska Läkaresällst Handl 21:123–130
Eulenburg A (1887) Ueber Spannungsströme und deren therapeutische Verwerthung. Neurol Cbl 6:442–443
Volta DG, Carli D, Zavarise P et al (2015) O033. TDCs treatment: long term results in drug resistant migrainous patients. J Headache Pain 16:A178
Volta DG, Marceglia S, Zavarise P et al (2020) Cathodal tDCS guided by thermography as adjunctive therapy in chronic migraine patients: a sham-controlled pilot study. Front Neurol 11:121
Dasilva AF, Mendonca ME, Zaghi S et al (2012) tDCS-induced analgesia and electrical fields in pain-related neural networks in chronic migraine. Headache 52:1283–1295
De Icco R, Putortì A, De Paoli I et al (2021) Anodal transcranial direct current stimulation in chronic migraine and medication overuse headache: A pilot double-blind randomized sham-controlled trial. Clin Neurophysiol 132:126–136
Fischer F (1882) Die allgemeine Faradisation. Arch Psychiatr Nervenkrankht 8:628–646
Fischer F (1887) Ueber einige Veränderungen, welche Gehörshallucinationen unter dem Einflusse des galvanischen Stromes erleiden. Arch Psychiatr Nervenkrankht 18:34–47
Grazzi L, Usai S, Bolognini N et al (2020) No efficacy of transcranial direct current stimulation on chronic migraine with medication overuse: A double blind, randomised clinical trial. Cephalalgia 40:1202–1211
Katyschew J (1878) Ueber die elektrische Erregung der sympathischen Fasern und ueber den Einfluss elektrischer Ströme auf die Pupille beim Menschen. Arch Psychiatr Nervenkrankht 8:624–640
Lampl C, Thomas H, Tassorelli C et al (2016) Headache, depression and anxiety: associations in the Eurolight project. J Headache Pain 17:59
Linde M, Gustavsson A, Stovner LJ et al (2012) The cost of headache disorders in Europe: the Eurolight project. Eur J Neurol 19:703–711
Lowder LT (1900) Therapeutic value of electricity. Am Pract News 30:165–168
Magis D, D’Ostilio K, Lisicki M et al (2018) Anodal frontal tDCS for chronic cluster headache treatment: a proof-of-concept trial targeting the anterior cingulate cortex and searching for nociceptive correlates. J Headache Pain 19:72
Mansour AG, Ahdab R, Khazen G et al (2020) Transcranial direct current stimulation of the occipital cortex in medication overuse headache: a pilot randomized controlled cross-over study. J Clin Med 9:1075
Manzoni GC, Stovner LJ (2010) Epidemiology of headache. Handb Clin Neurol 97:3–22
Meyer M (1881) Ueber schmerzhafte Druckpunkte als Ausgangspunkte der galvanischen Behandlung. Berl Klin Wochenschr 18:441–444
Morton WJ (1899) Electrostatic currents and the cure of locomotor ataxia, rheumatoid arthritis, neuritis, migraine, incontinence of urine, sexual impotence, and uterine fibroids. Publishers’ Printing Company, New York, S 12–14
Möbius PJ (1880) Ueber die schmerzstillende Wirkung der Elektricität. Berl Klin Wochenschr 17:501–504
Neftel WB (1889) Beiträge zur Symptomatologie und Therapie der Migräne. Nachtrag: Ueber eine physiologische Behandlungsmethode einiger chronischen Neurosen und Psychosen. Arch Psychiatr Nervenkrankht 21:117–155
Park SK, Yang DJ, Kim JH et al (2019) Effects of cranio-cervical flexion with transcranial direct current stimulation on muscle activity and neck functions in patients with cervicogenic headache. J Phys Ther Sci 31:24–28
Philip NS, Nelson BG, Frohlich F et al (2017) Low-Intensity Transcranial Current Stimulation in Psychiatry. Am J Psychiatry 174:628–639
Pinchuk D, Pinchuk O, Sirbiladze K et al (2013) Clinical effectiveness of primary and secondary headache treatment by transcranial direct current stimulation. Front Neurol 4:25
Pohl H, Moisa M, Jung HH et al (2020) Long-term effects of self-administered Transcranial direct current stimulation in episodic migraine prevention: results of a randomized controlled trial. Neuromodulation. https://doi.org/10.1111/ner.13292
Przeklasa-Muszyńska A, Kocot-Kępska M, Dobrogowski J et al (2017) Transcranial direct current stimulation (tDCS) and its influence on analgesics effectiveness in patients suffering from migraine headache. Pharmacol Rep 69:714–721
Rahimi MD, Fadardi JS, Saeidi M et al (2020) Effectiveness of cathodal tDCS of the primary motor or sensory cortex in migraine: A randomized controlled trial. Brain Stimul 13:675–682
Ramadan NM (2007) Current trends in migraine prophylaxis. Headache 47:52–57
Rocha S, Melo L, Boudoux C et al (2015) Transcranial direct current stimulation in the prophylactic treatment of migraine based on interictal visual cortex excitability abnormalities: A pilot randomized controlled trial. J Neurol Sci 349:33–39
Rumpf T (1881) Mittheilungen aus dem Gebiete der Neuropathologie und Elektrotherapie. Dtsch Med Wochenschr 32:36–37
Schobeß C, Steinberg H (2013) Das Wissen der deutschen Neurologen über die Migräne um 1890: Paul Julius Möbius und seine Monografie „Die Migräne“. Nervenarzt 84:995–1001
Smitherman TA, Penzien DB, Rains JC (2007) Challenges of nonpharmacologic interventions in chronic tension-type headache. Curr Pain Headache Rep 11:471–477
Sperling A (1892) Elektrotherapeutische Studien. Grieben, Leipzig
Stein ST (1882) Die allgemeine Elektrisation des menschlichen Körpers. Knapp, Halle a. S.
Stein ST (1886) Lehrbuch der allgemeinen Elektrisation des menschlichen Körpers, 3. Aufl. Knapp, Halle a. S.
Steinberg H (2011) Electrotherapeutic Disputes: The ‘Frankfurt Council’ of 1891. Brain 134:1229–1243
Steinberg H (2013) Transcranial Direct Current Stimulation (tDCS) has a history reaching back into the 19th century. Psychol Med 43:669–671
Steinberg H (2014) „Auch die Electricität leistet keine Wunder!“. Die vergessenen Beiträge deutscher Psychiater um 1880 zur Therapie von Depressionen und Psychosen. Nervenarzt 85:872–886
Stovner L, Hagen K, Jensen R et al (2007) The global burden of headache: a documentation of headache prevalence and disability worldwide. Cephalalgia 27:193–210
Tigges W (1883) Behandlung der Psychosen mit Elektricität. Allg Z Psychiatr 39:697–738
Viganò A, D’Elia TS, Sava SL et al (2013) Transcranial Direct Current Stimulation (tDCS) of the visual cortex: a proof-of-concept study based on interictal electrophysiological abnormalities in migraine. J Headache Pain 14:23
Wakerley BR (2019) Medication-overuse headache. Pract Neurol 19:399–403
Wickmann F, Stephani C, Czesnik D et al (2015) Prophylactic treatment in menstrual migraine: A proof-of-concept study. J Neurol Sci 354:103–109
Funding
Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
Z. Wagner und H. Steinberg geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Additional information
QR-Code scannen & Beitrag online lesen
Rights and permissions
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.
About this article
Cite this article
Wagner, Z., Steinberg, H. Mit Strom gegen den Kopfschmerz. Schmerz (2023). https://doi.org/10.1007/s00482-023-00746-1
Received:
Revised:
Accepted:
Published:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00482-023-00746-1