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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter Oldenbourg December 1, 2023

Epistemische Rivalitäten. Zum Umgang mit Sonderwissen an den Höfen des 14. Jahrhunderts

Epistemic Rivalries. Dealing with Special Knowledge at the Courts in the 14th Century
  • Jan-Hendryk de Boer EMAIL logo , Gion Wallmeyer EMAIL logo , Marcel Bubert EMAIL logo , Michele Campopiano EMAIL logo , Vanina Kopp EMAIL logo , Silvia Negri EMAIL logo , Christian Alexander Neumann EMAIL logo , Daniel Pachurka EMAIL logo and Maximilian Schuh EMAIL logo
From the journal Historische Zeitschrift

Zusammenfassung

An den Höfen der Könige, Päpste, Fürsten und Fürstinnen entwickelte sich im 14. Jahrhundert eine zunehmende Konkurrenz zwischen Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Bestände von Sonderwissen. Die Entscheidung, welches Wissen in welcher Form nutzbar war, verlagerte sich von den gelehrten Milieus auf Laien, an den Höfen auf Herrscher und Herrscherinnen und ihr Umfeld. Der offen ausgetragene Wettbewerb machte es erforderlich, die mit dem jeweiligen Wissensbestand verbundenen Geltungsansprüche, seine Gehalte und seinen möglichen Nutzen sowie die Positionen seiner Trägerinnen und Träger zu überprüfen. Die wachsenden epistemischen Rivalitäten ließen daher Wissen reflexiv werden. Diese Prozesse veranschaulicht der Beitrag anhand von Fallstudien zu ausgewählten lateineuropäischen Höfen.

Abstract

In the 14th century, the courts of kings, popes, and princes saw increasing competition between representatives of various types of expertise. The decision as to what kind of knowledge could be used and in what form shifted from the learned circles to the laymen and, at the courts, to the rulers and their entourage. Growing competition made it necessary to examine the claims to validity associated with each body of knowledge, its content, and potential usefulness, as well as the positions of its bearers. The growing epistemic rivalries thus made knowledge reflexive. The article illustrates these processes with case studies of selected Latin European courts.

Die wissensgeschichtliche Forschung über das Hoch- und Spätmittelalter[1] hat sich in der Vergangenheit üblicherweise auf drei Schwerpunkte fokussiert: erstens die zunehmende Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Wissensvorrats in distinkte Bestände von Sonderwissen, deren Elemente allein aus dem lebensweltlichen Allgemeinwissen heraus nicht länger verständlich waren[2]; zweitens die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Träger und Trägerinnen dieses Sonderwissens, insbesondere in Hinsicht auf die Herausbildung sozialer Rollen, Gruppen und Professionen, die sich als Verwalter dieses Sonderwissens verstanden und dementsprechend inszenierten[3]; drittens die Prozesse der sozialen Distribution und Diffusion von Sonderwissen sowie die gegenläufigen Versuche bestimmter Gruppen von Spezialisten und Spezialistinnen, ihr Wissen zu monopolisieren[4].

Es gibt zwei Orte, an denen sich diese drei Entwicklungen im Spätmittelalter überkreuzten: der Hof und die Stadt. Hier sahen sich Akteurinnen und Akteure in besonderem Maße dazu veranlasst, die gesellschaftliche Verteilung von Wissen oder die Bedingungen der Wissensproduktion zu reflektieren und ihr Wissen in Relation zu dem ihrer Zeitgenossen zu setzen. Denn ein derartiges Reflexivwerden von Wissen wird durch eine spezifische soziokulturelle Konfiguration begünstigt und tritt deshalb in bestimmten Zeiträumen, Milieus oder Regionen verstärkt auf. In der spätmittelalterlichen Wissensgeschichte ist unseres Erachtens die epistemische Konkurrenz zwischen Vertretern unterschiedlicher Wissenskulturen dafür ausschlaggebend, wie sie sich idealtypisch an den Höfen sowie in den Städten des 14. Jahrhunderts entwickelt hat. Eine derartige Konkurrenzsituation kann sich nur dann etablieren, wenn der gesellschaftliche Wissensvorrat unterschiedliche, gegeneinander profilierte Bestände von Sonderwissen ausgebildet und dieses Sonderwissen Prozesse der Diffusion, Monopolisierung oder Institutionenbildung durchlaufen hat. Sie erfordert Instanzen, die gleichsam als Schiedsrichter auftreten und die epistemischen Angebote bewerten. An den spätmittelalterlichen Höfen wie in den Städten übernahmen diese Rolle zunehmend nicht länger Angehörige der jeweiligen Wissensformation selbst, sondern externe Akteurinnen und Akteure – wie etwa Fürstinnen und Fürsten.

Diese Entwicklung lässt sich spätestens im ausgehenden 13. Jahrhundert erkennen.[5] Im 14. Jahrhundert trat diese Form der Auseinandersetzung mit epistemischen Rivalitäten allerdings gehäuft auf, weil in diesem Zeitraum eine Vielzahl etablierter Bestände von Sonderwissen bereitstand, die zunächst in den Schulen, Klöstern und Handwerkszünften des 12. Jahrhunderts entstanden waren.[6] Im Laufe des 13. Jahrhunderts war dieses Wissen ausgebaut und systematisiert worden, zugleich hatte es sich zunehmend institutionell verstetigt und war fernerhin durch Lehre, volkssprachliche Texte, narrative Aufbereitung und mnemotechnische Hilfsmittel in andere gesellschaftliche Felder diffundiert.[7] Damit waren die Voraussetzungen geschaffen für einen wissensgeschichtlichen Einschnitt, der in der Forschung bislang nicht die gebührende Aufmerksamkeit erhalten hat. Während in den vorangegangenen Jahrhunderten epistemische Rivalitäten vor allem innerhalb von Wissenskulturen ausgetragen wurden, gewannen im 14. Jahrhundert die neuen Kontaktsysteme zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Wissenskulturen und Laien eine entscheidende Bedeutung dafür, Ansprüche in Bezug auf Geltung und Reichweite von Wissen erfolgreich zu erheben. Da innerhalb dieser Kontaktsysteme die Normen der jeweiligen Wissenskulturen keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen konnten, machte die Kommunikation miteinander die Reflexion der eigenen in Absetzung zu konkurrierenden Wissensbeständen erforderlich. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielten Städte ebenso wie die Höfe von Päpsten, Königen und Fürsten. In diesen Arenen der epistemischen Konkurrenz wurde die Reflexion auf Genese, Geltung, Trägerschaft und Reichweite von Wissen zur gängigen Praxis, die darüber entschied, auf welche Weise welche Wissensbestände einzusetzen waren. Im Folgenden sollen aus pragmatischen Gründen zunächst einmal Höfe im Zentrum stehen, während vergleichbare Phänomene im urbanen Raum nur angedeutet werden können.

Wie wir zeigen werden, beschränkte sich die Funktion des Hofes als Kontaktsystem, in dem verschiedene Wissensbestände und deren Trägerinnen und Träger miteinander in Beziehung traten und die Spielregeln dieser Relationen reflektiert wurden, im 14. Jahrhundert nicht auf wenige herausragende Höfe, sondern wurde zu einem Charakteristikum dieser Institution insgesamt. Diese Entwicklung wurde bereits zeitgenössisch konstatiert und problematisiert. Spezifisch höfisches Reflektieren auf Genese, Geltung, Grenzen und Reichweite unterschiedlicher Wissensbestände bildete nun nicht eine Aufmerksamkeit heischende Ausnahme, sondern wurde erwartbar. Diese Institutionalisierung der Reflexion auf Wissen war bis zu einem gewissen Grade gegenläufig zu den Prozessen des 12. und 13. Jahrhunderts: Mit den Universitäten hatten sich Einrichtungen herausgebildet, in denen die Träger des Wissens selbst auf dessen Geltung reflektierten.[8] Äußere Einflussnahmen, sei es durch andere Fakultäten, durch Bischöfe, Päpste oder weltliche Große, wurden nach Möglichkeit zurückgedrängt.[9] Dagegen etablierte sich als Ideal, dass die Träger des scholastischen Wissens dieses selbst in Relation zu anderen Geltungsansprüchen setzten.[10] Externe Eingriffe wiesen sie zurück, indem sie auf die Autonomie ihrer jeweiligen Einrichtung verwiesen, als Artesmagistri etwa für sich reklamierten, Wissen eigener Dignität zu produzieren, das sich nicht an weltlichen Nützlichkeitserwägungen messen ließ[11], oder als Theologen ein grundlegendes Wissen über Immanenz und Transzendenz für sich in Anspruch nahmen, das anhand keines anderen Wissensbestandes bewertet werden konnte.[12] Mit dem 14. Jahrhundert änderte sich dieses Bild, als sich der Hof neben der Stadt als eine zentrale Arena etabliert hatte, in der Menschen miteinander konkurrierten, die für sich ein besonderes Wissen beanspruchten. Reflexionsmedium war dabei nicht mehr ausschließlich die Gelehrtensprache Latein, vielmehr verfestigten sich im höfischen Kontext die Volkssprachen als Medien der Wissensgenerierung und -verbreitung. Die Entscheidung darüber, welches Wissen aufgenommen und genutzt wurde, lag hier nicht bei den Trägerinnen und Trägern von Wissen, sondern bei den jeweiligen Herrschenden, ihren Beratern und dem Hof als sozialer Einrichtung insgesamt. Dies erforderte eine veränderte Reflexion auf Wissen sowie neue Angebote derjenigen, die für sich besonderes Wissen behaupteten und ihre Ansprüche durchsetzen wollten.

Unsere These wird im Folgenden in drei Schritten ausgeführt: Zunächst werden grundsätzliche Überlegungen zu den Konzepten des (Sonder-)Wissens, des Hofes und der Beobachtung von Wissen entwickelt. Im Anschluss daran werden unsere Annahmen anhand von Fallbeispielen aus den Forschungen der beteiligten Autorinnen und Autoren konkretisiert, bevor resümierend die Tragweite unseres Ansatzes und das Erfordernis weiterer Forschung diskutiert werden.

I. Konfigurationen des Wissens

Im Sinne der neueren Wissensgeschichte verstehen wir „Wissen“ keineswegs als ahistorisches Phänomen, sondern in wissenssoziologischer Tradition als „das Allgemeingut an gültigen Wahrheiten über die Wirklichkeit“[13], welches innerhalb einer Gesellschaft durch Sozialisation tradiert wird. Wenn durch Differenzierungsprozesse Wissensbestände entstehen, deren Inhalte und Routinen nicht Teil des gesellschaftlichen Allgemeinwissens sind, kann von „Sonderwissen“ gesprochen werden.[14] Derartiges Sonderwissen ist gleichermaßen durch die Spezifik der Inhalte und Aussageweisen im Vergleich zum Allgemeinwissen gekennzeichnet wie auch durch seine Trägerinnen und Träger. Häufig wird es einer bestimmten Gruppe zugeordnet, deren Angehörige dann um Unterstützung ersucht werden, wenn genau dieses Wissen benötigt wird. Die so durch ihr Sonderwissen Ausgewiesenen erscheinen als Expertinnen und Experten, deren Kompetenzen nachgefragt werden, um spezifische Probleme zu lösen.[15]

Dass im 14. Jahrhundert verschiedene Personen und Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß Anteil an den gesellschaftlichen Beständen von Sonderwissen hatten, wurde bereits von den Zeitgenossen beobachtet und teils affirmiert, teils kritisiert. Affirmation wie Kritik richten sich auf drei Aspekte: erstens auf die Wissensbestände selbst, ihre lebensweltliche Relevanz, ihr Verhältnis zu anderen Wissensbeständen und die Reichweite ihrer Geltung; zweitens auf die Trägerinnen und Träger des Wissens; drittens auf die Einrichtungen, die Wissen schufen, tradierten und distribuierten. So konnte universitäres Wissen aus der Außenperspektive, wie sie die traditionelle Gelehrtenkritik oder der sich formierende italienische Humanismus einnahmen, als eitler Selbstbezug jenseits lebensweltlich wichtiger Herausforderungen kritisiert oder im Gegenteil gesucht werden, wenn es politische, theologische und juristische Probleme auf gesicherter Basis zu lösen galt.[16] Das Wissen der Kaufleute mochte als Bedrohung einer christlich fundierten moralischen Ordnung erscheinen oder als attraktive Ressource, die Strategien gewinnbringenden Handelns in der Welt bereitstellte. Universitäten und Ordensstudien, Klöster, Zünfte und zunehmend auch Höfe wurden als Einrichtungen beobachtet, die in besonderer Weise Wissen generierten und anwendeten und damit die Ordnung der Wirklichkeit veränderten. Doktoren und Magister, Bankiers und Kaufleute, Notare und Schreiber, Illuminatorinnen und Steinmetze, Astrologen, Heilkundige und Apotheker, Seeleute und Kartographen, Mystikerinnen und Literaten erschienen als soziale Rollen, die mit spezifischen Verhaltensweisen und Wissensbeständen assoziiert wurden.[17]

Im Sinne unserer einführenden Überlegungen soll im Folgenden allerdings weniger die gut erforschte Ordnung und Verteilung des Wissens selbst untersucht, sondern vielmehr danach gefragt werden, wie das Vorhandensein von Sonderwissen zeitgenössisch beobachtet wurde. Unser Verständnis von „Beobachten“ orientiert sich an Niklas Luhmann, ohne dass wir insgesamt einen systemtheoretischen Ansatz vertreten.[18] Gemeint ist damit eine Operation, die eine Unterscheidung dadurch vornimmt, dass etwas bezeichnet wird und anderes nicht. Beobachtung kann sich auf Einzelereignisse richten, aber auch zu Sequenzen verkettet werden. Darüber konstituiert sich die Position des Beobachters, der sich als Beobachter erster Ordnung in der Welt der beobachteten Operationen befindet. Dies ist der Fall, wenn ein bestimmtes Problem benannt und Wissen angeboten wird, um dieses zu lösen. Werden diese Operationen der ersten Ebene selbst zum Gegenstand, spricht Luhmann von Beobachtungen zweiter Ordnung.

Zu unterscheiden sind interne Beobachtungen, in denen Akteurinnen und Akteure ihr Wissen und ihre soziale Rolle explizierten, von externen, die auf das Wissen und die Routinen der anderen zielten. Je nach Blickrichtung konnten sich dabei unterschiedliche Akzente ergeben: Wenn Gelehrte über die besondere Kompetenz ihrer Disziplin sprachen, grenzten sie sie innerhalb der Universitäten gegen konkurrierende Disziplinen ab. Zugleich konnten sie nach außen gewandt entweder ihre besondere wissenschaftliche Expertise herausstellen und sich so in grundsätzliche Diskussionen in anderen diskursiven Feldern einschalten[19] oder aber gerade betonen, dass ihr Wissen und ihr Habitus sich planen Nützlichkeitserwägungen entzogen, wie sie außerhalb der Universitäten herrschen mochten.[20] Humanistische Scholastikkritik wiederum verschmolz Selbst- und Fremdbeobachtung: Das eigene, lebensweltlich nützliche und durch die antike Tradition beglaubigte Wissen wurde als wesentlich verschieden vom Wissen der universitären Scholastik präsentiert, dem man Selbstbezüglichkeit und eine aus Eitelkeit und Inkompetenz erwachsene Abkehr von den Quellen wahren Wissens – nämlich Antike und Patristik – vorwarf.[21]

Zu differenzieren ist außerdem zwischen Beobachtungen, die als Funktion des Wissenserwerbs und der Wissensverbreitung getätigt werden, und solchen, die die sozialen und diskursiven Konfigurationen des Wissens reflektieren. Erstere liegen vor, wenn Gelehrte in ihren Schriften erklären, wie sie etwa durch Einsatz von logischen Schlussfolgerungen ihre Erkenntnisse gewonnen haben, wenn Ratgeber darlegen, warum ihr Rat besser ist als derjenige der Konkurrenz, Notare beteuern, eine genaue Abschrift eines Dokuments vorgelegt zu haben, wenn Kaufmannshandbücher Wechselkurse und Gewichtseinheiten aktualisieren oder Anleitungen für neue Rechentechniken bieten. Letztere sind gegeben, wenn kritisch nach den Grenzen des Wissens, den Bedingungen des Wissenserwerbs und der Beschränktheit seiner Geltung gefragt wird – und möglicherweise Alternativen aufgezeigt werden.[22] Die Dominanz gelehrten Wissens wurde im Hoch- und Spätmittelalter beispielsweise herausgefordert, indem man für sich ein spezifisches Nichtwissen reklamierte, das die epistemischen Beschränkungen der Vernunfterkenntnis überwand – eine Aussagestrategie, derer sich die Mystik bediente. So relativierte sich nicht nur die Geltung universitären Wissens, zudem vermochten Laien, die diskursive Macht von Klerikern herauszufordern. Das erlaubte nicht zuletzt Frauen, für sich ein religiöses (Nicht-)Wissen zu beanspruchen, das ihren – überwiegend volkssprachlichen – Aussagen im männlich dominierten Feld Gehör sicherte.[23]

Der Wechsel zur Beobachtung zweiter Ordnung ist für mittelalterliche wie moderne Wissenschaften charakteristisch, da diese nicht nur danach fragen, ob etwas geschehen ist, sondern auch danach, wie und warum dies geschieht. Die geschichtswissenschaftliche Analyse derartiger mittelalterlicher Reflexionen stellt eine Operation dritter Ordnung dar, da hier zeitgenössische Aussagen über Wissen, seine Geltung, Verteilung und soziale Bedeutung Gegenstand der Untersuchung werden. Eine Häufung bzw. eine diskursive Verschiebung hin zu einer Dominanz von Beobachtungen zweiter Ordnung ist ein Indiz für Störungen in der Iteration des Selbstverständlichen: Modi und Voraussetzungen von Wissen und Wissenserwerb werden vor allem dann zum Thema, wenn diese nicht länger selbstverständliche Akzeptanz genießen. Wenn also seit dem 14. Jahrhundert verstärkt thematisiert wurde, welche Rolle Sonderwissen und seinen Trägerinnen und Trägern in sozialen Gebilden wie Universitäten und Klöstern, Städten oder Höfen, Kirche und weltlichen Reichen zukommen sollte, liegt eine Zunahme von Operationen zweiter Ordnung vor – und mithin ein offenkundig gesteigertes zeitgenössisches Problembewusstsein, das es nicht länger erlaubte, jene Institutionen als faktisch gegeben und selbstverständlich in ihrer sozialen Funktion zu betrachten.[24]

Wenn verstärkt Beobachtungen zweiter Ordnung in Bezug auf Wissen, seine Trägerinnen und Träger sowie seine institutionellen Bedingungen vorgenommen werden, wird Wissen reflexiv. Reflexives Wissen setzt seinerseits Wissen voraus, das es nicht nur erlaubt, Unterscheidungen vorzunehmen zwischen Wissen und Nichtwissen, sondern vor allem Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten des Wissens ermöglicht. Wird Wissen reflexiv, verortet es sich innerhalb des gesellschaftlichen Wissensvorrats, indem seine Geltung in Bezug gesetzt wird zu anderen Beständen. Damit ergibt sich fast zwangsläufig das Erfordernis, Wissen zu bewerten: Im Vergleich mit konkurrierenden Wissensbeständen stellt sich die Frage nach seiner Spezifik, seiner Plausibilität, seinem inneren Zusammenhang sowie seiner sozialen und epistemischen Reichweite. Die beschriebene Vervielfältigung von Sonderwissen und seiner Träger resultierte in einer zunehmenden Konkurrenz innerhalb der eigenen Gruppe sowie unter den Angehörigen verschiedener Wissenskulturen und der von ihnen beanspruchten Expertise. Wenn sie sich in Kontaktsystemen mit anderen epistemischen Kulturen bewegten, konnten Trägerinnen und Träger von Sonderwissen sich nur bedingt auf die impliziten Normen ihrer Wissenskultur berufen, sondern mussten die Grundlagen ihres eigenen Wissens nachvollziehbar explizieren. Umgekehrt benötigten Laien, die Experten zur Lösung einer bestimmten Problematik in Dienst nehmen wollten, Kriterien, anhand derer sie ihre Entscheidungen treffen und gegebenenfalls begründen konnten. Auf beiden Seiten war es also erforderlich, Wissensbestände und ihre Trägerinnen und Träger zu beobachten und so durch Unterscheidungen Ordnung in eine immer schwerer zu überschauende Wirklichkeit zu bringen. Als Arenen, in denen derartige Unterscheidungen getroffen wurden, etablierten sich, wie einführend bereits dargelegt, im Spätmittelalter neben den Städten vor allem die Höfe, wobei die hier geübte Logik des Austragens von Konkurrenz um Deutungen, Positionen und Ressourcen Rückwirkungen auf die diskursive und soziale Verfasstheit von Wissen hatte.

Die Höfe lateineuropäischer Herrscher gelten in der Forschung

„als Verteilungszentren einer hochgradig vernetzten und sich immer stärker vernetzenden Wissensgesellschaft […], die eben in ihnen ihre Knotenpunkte besaß, von denen aus dichte Verbindungsstränge in ihre Reiche liefen und die Welt durchdrangen […]“.[25]

Unter „Hof“ verstehen wir dabei mit Hirschbiegel ein Macht organisierendes politisches System, das auf die Person eines Herrschers oder – seltener – einer Herrscherin als Mittelpunktfigur zentriert ist und sowohl nach innen als auch nach außen der Generalisierung von Verhaltenserwartungen dient.[26] Innerhalb dieses Systems kontrolliert Wissen einerseits das Verhalten der Akteurinnen und Akteure und hilft ihnen somit andererseits, das Handeln anderer zu antizipieren. Fürsten, Könige und Päpste standen in beständiger Konkurrenz zueinander, Adlige konkurrierten mit Bürgern, Laien mit Gelehrten, Höflinge mit Außenstehenden, Praktiker mit Theoretikern.[27] Die Rolle der Laien in den höfischen Kontaktsystemen war dabei deutlich symmetrischer ausgeprägt als in den meisten anderen Formen der Experten-Laien-Interaktion. Denn am Hof waren die Laien meist hochgestellte Entscheidungsträger, weshalb Trägerinnen und Träger von Sonderwissen diesen mächtigen Persönlichkeiten nicht ohne weiteres die eigenen epistemischen Normen auferlegen konnten, sondern sich nach deren Bedürfnissen richten mussten. Auf die Konkurrenzsituation an ihren Höfen reagierten die Herrschenden mit verschiedenen Maßnahmen: mit systematischerem Erwerb von Wissen, etwa indem man Gelehrte in Dienst nahm; mit dem situativen Rekurrieren auf Expertise, indem man Fachleute zu konkreten Problemen Stellung nehmen und sie Gutachten verfassen ließ[28]; mit der Speicherung von Wissen, etwa indem Bibliotheken und Archive errichtet und ausgebaut oder Verzeichnisse und Listen von Personen und deren Aufgaben angelegt wurden[29]; mit veränderten Techniken, welche die Bewegung von Geld und Waren steuer- und kontrollierbar machen sollten[30]; mit Bürokratisierung und weiterer Ausdifferenzierung der Ämter, wodurch Sonderwissen und dessen Träger und Trägerinnen in der Hoforganisation konkrete Bereiche zugewiesen bekamen[31]; schließlich mit verschiedenen kommunikativen Strategien, die verdeutlichen sollten, dass Entscheidungen und Handlungen wissensbasiert waren und gerade deshalb Akzeptanz für sich beanspruchten.

Beispiele für diese Strategien lassen sich für viele lateineuropäische Höfe benennen: Päpstliche Briefe berichteten besonders bei strittigen Entscheidungen ausführlich darüber, welche Informationen der Papst eingeholt hatte und wie diese geprüft worden waren. Zugleich intensivierte die Kanzlei die Registrierung ausgehender Schreiben, um päpstliche Entscheidungen zu dokumentieren und später nachvollziehbar zu machen.[32] Die Herren von Mailand, Urbino, Ferrara, Mantua oder Rimini umgaben sich mit humanistisch gebildeten Dichtern, Rednern und Historikern, die einen wesentlichen Beitrag für die Selbstpräsentation der Signori leisteten. Denn die Geförderten steuerten historische und moralphilosophische Argumente bei, mit denen sie die jeweilige Fürstenherrschaft legitimierten, verkündeten poetisch und oratorisch den Ruhm ihrer Mäzene und verliehen den Verlautbarungen ihrer Herren jenen rhetorischen Schliff, den das Publikum zu erwarten lernte.[33] Am französischen Hof nahm Christine de Pizan eine ambige Stellung zwischen Protegée und Hofautorin ein. Ihre verschiedenen Werke, darunter Fürstenspiegel und politische sowie militärische Handlungsanleitungen, fanden Eingang in fürstliche Sammlungen in England, Frankreich und Burgund.[34]

Auch in der Kommunikation zwischen Herrscherhöfen spielte eine explizit wissensbasierte Rechtfertigung des eigenen Tuns und Lassens zunehmend eine Rolle. Die französischen Könige Karl IV. und Philipp VI. versuchten mittels verschiedener Expertengutachten, die Päpste Johannes XXII. und Benedikt XII. dazu zu bewegen, ihnen kirchliche Gelder zur Finanzierung ihrer Kreuzzugsbemühungen zur Verfügung zu stellen. Diese Gutachten sollten nicht nur die Entscheidungsprozesse am französischen Hof für die Gegenseite nachvollziehbar machen und somit die Zweckgebundenheit der königlichen Forderungen verdeutlichen, sondern zugleich auch illustrieren, dass die zugrunde liegenden Entscheidungen wissensgestützt erfolgt waren.[35] Der englische König Edward III. wiederum versammelte an seinem Hof Rechtsgelehrte, die ihn im Konflikt mit Philipp VI. unterstützen sollten. Edward hatte sich im Januar 1340 unter Verweis auf die weibliche Erbfolge zum König von Frankreich erklärt und versuchte nun, seinen Anspruch auf den Thron gegenüber dem Papst und den französischen Kronvasallen juristisch zu legitimieren. Da die Gegenseite ihre eigenen Juristen mobilisierte, entwickelte sich ein schriftlicher Schlagabtausch zwischen den Rechtsgelehrten der beiden Könige, der parallel zur Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld ausgefochten wurde.[36]

Die Höfe von Päpsten, Königen, Fürsten und Prälaten trugen durch ihren beständigen Selektionsdruck zur Veränderung des Wissens bei. Dies erfolgte in dreierlei Hinsicht: Erstens wurde Sonderwissen anwendungsorientiert reformuliert, um es den spezifischen Bedürfnissen der Herrschenden anzupassen. Zweitens wurde es komprimiert, damit höfische Eliten es in dem begrenzten Zeitraum, der ihnen für die Interaktion mit einem bestimmten Experten zur Verfügung stand, angemessen rezipieren konnten. Drittens wurde Sonderwissen auch dahingehend modifiziert, dass es sich gegenüber Laien nachvollziehbar als wichtig und relevant präsentieren und von dem der Konkurrenz abgrenzen ließ. Häufig gingen derartige Anpassungen an die Bedürfnisse des Hofes mit einem Sprachwechsel einher. Das große Interesse an gelehrtem Wissen, sei es aktuellen universitären Theorien, sei es an antiken Autoritäten, schlug sich in volkssprachlichen Übertragungen nieder, zu denen etwa die Übersetzungen aristotelischer Werke zählten, aber auch eine eigene Schrift über das Geldwesen, die Nicole Oresme für Karl V. von Frankreich anfertigte.[37] Narrativierungen von Wissen, wie sie Petrarca mit dem damaligen Bestseller „De remediis utriusque fortunae“ oder Christine de Pizan mit ihrem „Le Livre du chemin de long estude“ vorlegten[38], machten dieses leichter fassbar und stellten es in größere Sinnbezüge. Mit dem Traktat entwickelte sich schließlich eine Textsorte, die es erlaubte, ohne strenge formale Regeln gelehrtes Wissen einem möglichst breiten, nicht mehr vorzugsweise universitären oder monastischen Publikum adäquat zu vermitteln.[39]

Die innere und äußere Konkurrenz führte überdies dazu, dass die Zeitgenossen den Hof selbst zum Gegenstand der Reflexion machten. Dabei handelt es sich zumeist um Beobachtungen zweiter Ordnung, die, wie etwa die seit dem 13. Jahrhundert verbreitete Hofkritik, das Leben am Hof, aber auch dessen Verhältnis zur nichthöfischen Umwelt thematisieren und problematisieren.[40] Humanistische Hofkritik lässt sich als kritische Auseinandersetzung mit einer Institution verstehen, deren Förderung die Bewegung selbst viel verdankte und die Karrierechancen bot, deren Reize gleichwohl als ambivalent bewertet wurden.[41] Denn es drohte hier, so gaben diejenigen zu bedenken, die sich gegen eine Anstellung an einem Hof entschieden und damit externe Beobachtungen formulierten, der Verlust jener Muße und Unabhängigkeit, welche als Voraussetzung für ertragreiche und tiefgehende geistige und literarische Tätigkeit angesehen wurde. Hofkritik vermaß auf diese Weise die Voraussetzungen eines Gelehrtenlebens jenseits von Kloster und Universität sowohl in Bezug auf seine praktischen Dimensionen wie auf Erwerb und Anwendung von Wissen und entwickelte daraus normative Annahmen darüber, wie richtig zu leben sei. Kritiker und Verteidigerinnen einer höfischen Karriere verstanden den Ort gleichermaßen als Einrichtung, die auf der Nutzung von Wissen basierte und den Trägerinnen und Trägern von Sonderwissen Handlungsmöglichkeiten und Machtchancen eröffnete, sie aber zugleich wieder beschränkte.[42]

Im 14. Jahrhundert findet sich das Nachdenken über den Hof allerdings nicht allein in der gelehrten Hofkritik, sondern lässt sich auch vermehrt in Verwaltungsschrifttum und höfischer Korrespondenz nachweisen. Davon zeugen beispielsweise die Gesandtschaftsberichte der Vertreter König Jakobs II. von Aragon an der päpstlichen Kurie in Avignon. Die Beobachterperspektive nahmen diese Gesandten vor allem dann ein, wenn es ihnen nicht gelungen war, eines der zahlreichen Anliegen des Königs wie die Einsetzung eines Bischofs, die Verleihung bestimmter Pfründen oder die Gewährung eines Dispenses zeitnah und befriedigend zu erfüllen. Indem sie dem König erläuterten, welche Kardinäle sie überzeugt und welche Türhüter sie bestochen hätten oder warum es nicht sinnvoll sei, ein bestimmtes Anliegen vor das Konsistorium zu bringen, explizierten die Gesandten die politischen Entscheidungsprozesse an der Kurie und begründeten damit, warum der erwartete Erfolg ausgeblieben war.[43] Die auch im 14. Jahrhundert populären Fürstenspiegel schließlich formulierten häufig aus einer Nahperspektive zum Herrscher Erwartungen in Bezug auf dessen Handeln, seine Bildung und seinen Charakter.[44] Dabei orientierten sie sich an traditionellen Annahmen über gute (und schlechte) Regierung, verarbeiteten eigene Überlegungen über herrschaftliches Handeln und synthetisierten diese zu einer Matrix guter und schlechter Handlungsweisen, an der sich der (zumeist männlich gedachte) Herrscher zu orientieren hatte und anhand derer sein Tun bewertet werden konnte.[45] Wissen wurde dabei als zentrale Ressource identifiziert, über die der Fürst verfügen musste, um seine Herrschaft gut ausüben zu können.[46] Insbesondere musste er wissen, wem er vertrauen und wen er als Ratgeber heranziehen sollte. Fürstenspiegel wollten folglich herrschaftliches Handeln nicht nur nach bestimmten Maßstäben reorientieren, sondern führten vor, wie man Herrschaft und ihre Voraussetzungen zu deuten habe. So leiteten sie Hof und Herrscher zur Selbstreflexion und Außenstehende zur Fremdbeobachtung an. Insofern sind Fürstenspiegel ein Beispiel für jene Textsorten, die Beobachtungen zweiter Ordnung praktizierten und zugleich in diese Praxis einführten.

II. Beobachtungen von Wissen

Die im vorherigen Teil formulierten Überlegungen sollen im Folgenden anhand von etwas ausführlicher entwickelten Beispielen weiter konkretisiert werden. In vier Abschnitten werden das Nachdenken über Wissensbestände und Sonderwissen, die Träger und Trägerinnen von Wissen, wechselseitige Erwartungen als Mechanismus, der die Rolle von Wissen am Hofe prägt, sowie abschließend eine neue Form des Reflexivwerdens von Wissen im 14. Jahrhundert analysiert.

1. Wissensbestände, Sonderwissen, spezifisches Wissen

Die Herausbildung verschiedener Bestände von Sonderwissen innerhalb des gesellschaftlichen Wissensvorrats wurde an den Höfen wahrgenommen und reflektiert.[47] Die Zeitgenossen versuchten, Sonderwissen mit Blick auf die Interaktion am Hof zu systematisieren, und begannen, dabei auch über die Position des Hofes in der gesamtgesellschaftlichen Wissensordnung nachzudenken. Diesen Prozess illustriert das Gedicht „Der meide kranz“[48] (nhd. Die Krone der Jungfrau [Maria]), welches der gelehrte Dichter Heinrich von Mügeln wahrscheinlich 1355 für den oder vermutlich sogar am Prager Hof Karls IV. verfasste.[49] Das mehrschichtige Sinnangebot des Textes schließt die auf den Hof und das adlige Umfeld zielende Funktionalisierung der einbezogenen Wissensbestände ein. Die Vermittlungsleistung von Wissen ist dabei eher zweitrangig. Im literarischen Text wird eine Hierarchie von Gott, Natur und dem Kaiser sowie den Artes und den Tugenden ausgehandelt.[50] Der Kaiser übernimmt dabei eine „Ordnungsfunktion [im] Wirken nach unten“[51], indem er als Leitbild des Adels dient. Zur Ausgestaltung dieser Ordnung werden drei besondere Wissensbestände, nämlich erweiterte Artes, Tugenden sowie naturkundliches und kosmologisches Wissen, aufeinander bezogen, verschränkt und in ein reflexives Verhältnis gesetzt, das jedoch – im Spannungsverhältnis zu den im Text erzählten Rangstreitigkeiten der allegorischen Figuren – keine Konkurrenz dieser Bestände zeichnet, sondern deren Konvergenz. Zugleich wird das jeweilige Verhältnis zur Natur bestimmt, woraus sich immer auch eine Position zu Gott ergibt.[52] In dieses Instanzensystem ist der Kaiser als literarische Figur eingebettet. Er wird dadurch transzendiert und den Artes und den Tugenden übergeordnet, der Natur beigeordnet.[53]

Innerhalb der literarischen Welt der Hofdichtung entwickelt Karl sein normsetzendes Profil des rex litteratus und legitimiert seine Stellung als oberster Richter gegenüber dem Adel, der im Text mehrfach direkt adressiert wird.[54] Das Wissen um die höchsten Dinge ist damit nicht nur politisch-funktional aus der Perspektive des Kaisers, sondern verfügt auch über einen integrativ-partizipativen Aspekt. Denn der Adel kommt mit den höchsten Instanzen und Werten in Kontakt und kann sich sowohl durch Tugendhaftigkeit als auch dadurch veredeln, dass er seine Rolle in der göttlich-natürlichen Ordnung erfüllt. Insgesamt verfolgt der Text eine literarisch-kommunikative Strategie, in der diskursive und Lösungsmodelle für verschiedene Sachverhalte (gegebenenfalls auch textexterne) entworfen und durchgespielt werden, wobei den Funktionalisierungen des Wissens eine entscheidende Rolle zukommt: Sie ermöglichen Hierarchisierung und Ordnung, Profilierung eines Herrscherideals, Legitimation bzw. Stabilisierung des Herrschers und Belehrung.[55] Damit deutet „Der meide kranz“ zugleich auf ein für die Wissensgeschichte des 14. Jahrhunderts entscheidendes Spezifikum höfischer Kontaktsysteme hin: Im Unterschied zu den Schulen und Universitäten waren es an den Höfen nämlich keineswegs Gelehrte oder Experten, sondern oft gebildete Laien – Mügeln kann zweifelsfrei als poeta doctus gelten –, die Sonderwissen als externe Beobachter reflektierten, ordneten und bewerteten.

Dass sich an den Höfen des 14. Jahrhunderts regelrechte Cluster von Expertisen bildeten, ließ die Zeitgenossen darüber nachdenken, in welchem Verhältnis die jeweiligen Arten von Sonderwissen zur politischen Sphäre standen und welche Relevanz ihnen für die höfische Welt zukam.[56] In der Selbstbeobachtung der universitären Expertenkultur begegnen derartige Reflexionen über die Abgrenzung von epistemischen Zuständigkeiten und Kompetenzen bereits im frühen 14. Jahrhundert. Im Unterschied zu gelehrten Juristen oder Medizinern, die als Experten an Höfen präsent waren und dort im Interesse ihrer „Klienten“ agierten, gingen viele Philosophen der Universität auf Distanz zum Hof, indem sie ihre Zuständigkeit von der politischen Praxis abgrenzten.[57] Der Philosoph Johannes von Jandun hielt etwa fest, dass die Philosophen in ihrer genuinen Tätigkeit, wie der Spekulation und der Lehre, nicht durch die Politik gestört werden sollten („non molestantur per opera politica“). Die Philosophie, so machte Radulphus Brito deutlich, werde um ihrer selbst willen („gratia sui ipsius“) betrieben und sei nicht auf etwas anderes ausgerichtet („ad aliud ordinata“). Damit unterschied sie sich von der Rechtswissenschaft, deren Vertreter, wie Johannes Buridan betonte, die äußeren Reichtümer („exteriores divitias“) erstrebten.

Tatsächlich boten die Höfe besonders für Juristen attraktive Verdienstmöglichkeiten und Karrierechancen, wie die externen Kritiker höfischen Treibens konstatieren mussten. Als juristische Berater des Herrschers konnten die Rechtsexperten mitunter zu erheblicher Macht am Hof gelangen.[58] Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass nicht auch philosophisches Sonderwissen für die politische Welt relevant werden konnte. In bestimmten Situationen, vor allem bei den Konflikten zwischen weltlichen Herrschern und Päpsten, konnte politische Philosophie eine spezifische Relevanz am Hof erhalten. Die Traktate politischer Theorie etwa von Johannes Quidort, Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham oder Konrad von Megenberg, die teilweise auf Anfrage der Höfe verfasst wurden, bezogen philosophische Wissensbestände, wie Ethik und Politiktheorie, ausdrücklich auf konkrete politische Problemlagen.[59] In ihnen war die Philosophie nicht „gratia sui ipsius“, sondern „ad aliud ordinata“. Da das Sonderwissen dieser Gelehrten ursprünglich aus einem anderen Kontext stammte, musste es allerdings zunächst in seiner Passensrichtung verändert werden, um anwendungsorientiert zu erscheinen und somit an den Höfen anschlussfähig zu sein, was wiederum die Beobachtung von Differenzen in zeitgenössischen Wissenskulturen forcierte.

Diese Transferleistung wird besonders deutlich, wenn einzelne Gelehrte der Universität die Rolle eines Vermittlers einnahmen und philosophisches Sonderwissen gezielt für die höfische Welt „übersetzten“. Die bereits oben erwähnten französischen Übersetzungen von Werken des Aristoteles, die der Philosoph und Theologe Nicole Oresme für König Karl V. von Frankreich verfasste, unterscheiden sich nicht nur sprachlich von den lateinischen Kommentaren der akademischen Welt. Als Mediator philosophischen Wissens setzt Oresme, der genauso als Verfasser rein wissenschaftlicher Schriften bekannt ist, eine Anpassung an den Erwartungshorizont seines Adressaten ins Werk. In seinen Erläuterungen zu den übersetzten Passagen wendet er sich konsequent im Code des Ratgebers an den Herrscher mit Formeln wie „Le legislateur doit faire“, „Et pour ce, le legislateur doit préparer“.[60] Sprach Oresme hier als Experte ganz im Interesse seines „Klienten“, so scheute er sich in anderen Situationen gleichwohl nicht, auch Kritik zu üben und sich als „Intellektueller“ in Bereiche einzumischen, die, wie etwa die Münzpolitik des Königs, seinen Kompetenzbereich im engeren Sinne überschritten. Ebenso wetterte er gegen die Konkurrenz anderer Experten am Hof, wenn er die Legitimität der Astrologen in Frage stellte.

Die Beobachtung des gesellschaftlichen Wissensvorrats konnte selbst neue Wissensbestände hervorbringen, die Sonderwissen aus verschiedenen Beständen problemorientiert zusammenfassten und neu ordneten, um so bestehende Wissenslücken gezielt zu schließen.[61] An den Höfen des 13. und 14. Jahrhunderts lässt sich etwa ein wachsendes Interesse für Naturwissenschaften und Medizin erkennen.[62] In diesem Kontext erhielt die cura corporis einen hohen Stellenwert und betraf alle Abschnitte des Lebens – damit auch das (hohe) Alter, die senectus oder das senium. Die Gelehrten interessierten sich, an hippokratisch-galenische Theorien anknüpfend, für Alterungsprozesse und wie diesen entgegengewirkt werden könnte. Für jedes Lebensalter wurden Regimina sanitatis verfasst.[63] Durch geeignete Mittel erschien gar die Transformation des Körpers möglich. Die Herrschenden, deren Gesundheit stets auch ein Politikum war, waren häufig die Auftraggeber solcher Werke. Das Nachdenken über das Alter(n) ist demnach auch auf die Dynamik höfischer Klientelbeziehungen zurückzuführen, denn solche Regimina waren letztlich ein Versuch der anwendungsorientierten Personalisierung medizinischen Sonderwissens für einen bestimmten Patron und einen elitären Adressatenkreis im Allgemeinen. Das Wissen um Gesunderhaltung und prolungatio vitae wurde als Spezial- und auch Geheimwissen angesehen.[64] Ferner ist hervorzuheben, dass die zum Teil kostbaren „Heilmittel“ wie Gold, Silber oder Bernstein, denen eine wundersame Wirkung zugeschrieben wurde, lediglich den Eliten zur Verfügung standen.[65] Im Hinblick auf ihre Zubereitung waren die Grenzen zwischen Medizin und Alchemie fließend.[66] Aus der von praktischen Nützlichkeitserwägungen geleiteten Beobachtung des gesellschaftlichen Wissensvorrats war also im 14. Jahrhundert ein Bestand von Sonderwissen um Alterungsprozesse und deren Gegenmittel hervorgegangen, der gegen Ende des 15. Jahrhunderts zunehmend systematisiert wurde.[67] Zu einer Verstärkung dieser Entwicklung kam es während der Frühen Neuzeit im Zuge der Genese der spezialisierten Textgattung der Gerokomien.[68]

Als neuartig wahrgenommene Herausforderungen – die Pluralisierung von Wissensbeständen am Hof, das Zirkulieren von Wissen und Gelehrten zwischen Universitäten und Höfen oder der Umgang mit alten Herrschern – veranlassten die zeitgenössischen Beobachter dazu, über die Orientierungsfunktion und den praktischen Gebrauch des Wissens nachzudenken, wodurch die jeweiligen diskursiven Formationen, in denen sie sich bewegten, neu orientiert wurden. Wem es gelang, hier als Träger oder Trägerin von Sonderwissen Anerkennung zu finden, konnte auf eine erfolgreiche Karriere hoffen.

2. Trägerinnen und Träger von Wissen

Die spätmittelalterliche Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Wissensvorrats ging mit einer zunehmenden Monopolisierung von Wissen durch bestimmte soziale Gruppen und Professionen einher. Trägerinnen und Träger von Sonderwissen wie Mediziner und Heilkundige, Juristen oder Handwerkerinnen und Handwerker inszenierten sich als alleinige Sachwalter eines bestimmten Wissens und betonten durch ihre Sprache und ihr Aussehen den exklusiven Zugang zu diesen Wissensbeständen. Höfe bildeten Kontaktsysteme zwischen Trägern und Trägerinnen von Sonderwissen aus verschiedenen sozialen Milieus, die miteinander um die herrscherliche Gunst wetteiferten. Die Konkurrenzsituation betraf einerseits die Vertreter und Vertreterinnen einer Gruppe oder Profession, die untereinander um die Deutungshoheit über einen Wissensbestand rangen, und andererseits die Trägerinnen und Träger von unterschiedlichen Beständen von Sonderwissen, die für sich in Anspruch nahmen, auf dieser Grundlage ein bestimmtes Problem lösen zu können. Dieser Wettbewerb bildete wiederum die Triebfeder für Beobachtungen, mittels derer entschieden werden sollte, wer legitimerweise als Expertin bzw. Experte oder Autorität auf einem bestimmten Feld gelten konnte. Zugleich erzeugte die Konkurrenz an den Höfen die Nachfrage nach einem neuen Expertentypus, der nicht einen bestimmten Wissensbestand, sondern die soziale Verteilung von Wissen selbst zu überblicken vermochte. Diese Experten für Experten halfen den Herrschenden dabei, die Trägerinnen und Träger von Sonderwissen auf epistemischer Ebene einzuordnen und zu entscheiden, welche Expertise zu welchem Problem gehört werden sollte.

Die daraus erwachsende höfische Konkurrenzsituation musste kanalisiert werden, insbesondere wenn bei höfischen Ereignissen die unterschiedlichsten Hofmitglieder persönlich aufeinandertrafen.[69] Nun wurden Trägerinnen und Träger zu praktischen Anwenderinnen und Anwendern von besonderem Wissen für diese geselligen Momente. Angemessene Themen und absichernde Regeln zum gemischtgeschlechtlichen Austausch boten Wissensabfrage und -anwendung rund um Liebeskasuistik. Die ersten Nennungen dieser Spiele im höfischen Rahmen stammen aus dem 12. Jahrhundert: le jeu du roi et de la reine, le château d’amour oder ventes[70] thematisieren Liebesdilemmata auf mehr oder weniger allegorische, ironische oder erotische Weise. Ab 1350 verändern sich die Funktionalisierung und Operationalisierung: Die Fragen und Antworten werden so standardisiert und verbreitet, dass ein neuer Handbuchtyp von Kompilationen zu Konversationen entsteht.[71]

Diese Handbücher, die sich im Laufe des 14. Jahrhunderts an der Schnittstelle von höfischer und aufstrebender urban-laikaler Schicht entwickelten[72], wandten sich im höfischen Bereich an beide Geschlechter. Sowohl aus narrativen, textuellen wie auch visuellen Quellen von Spielsituationen kann man rekonstruieren, dass die gemischtgeschlechtliche Konversation ein Kernelement war: So wurde grundsätzlich von Frauen mit Männern gespielt, wobei offen ist, welche Frage von wem in welcher Reihenfolge gestellt wurde; die allermeisten Handbücher geben einfach nur den Frage- und Antwortkatalog wieder. Beide Spielende, Männer wie Frauen, mussten die möglichen Themen und Tonarten des Spiels auswendig kennen, performativ anwenden und situativ interpretieren können.[73] Ziel war es, sowohl Wissenselemente als auch die normativen Codes für einen ludischen Austausch zwischen den Geschlechtern[74] und zwischen den adeligen, bürgerlichen und geistlichen Ständen innerhalb der Pariser Hofgesellschaft[75] zu generieren und einen angemessenen sowie gewaltfreien Austausch zu ermöglichen. Das Nachdenken über die Regeln einer vom Kontakt unterschiedlicher Wissenskulturen geprägten Hofgesellschaft hatte demnach neues Sonderwissen hervorgebracht, das höfische Interaktion vorhersehbarer machte und die Handelnden zu entlasten vermochte. Frauen waren dabei nicht nur mitgemeint, sondern auch Rezipientinnen und vor allem aktive Anwenderinnen dieses besonderen Wissens im höfischen Kontext.

Während die genannten Spielhandbücher von der Forschung lange vernachlässigt wurden, bilden die gelehrten Mediziner ein vielzitiertes Beispiel für eine Profession, die sich durch ihr während des Studiums an einer Universität oder hohen Schule erworbenes Sonderwissen von den anderen Heilerinnen und Heilern ihrer Zeit abzugrenzen versuchte.[76] Im 14. Jahrhundert hatten sich Vertreter dieser medizinischen Tradition als Leibärzte an den meisten lateineuropäischen Höfen etabliert und trafen dort auf konkurrierende Heilkundige, zu denen etwa die handwerklich orientierten Wundärzte und Chirurgen zählten.[77] Inwiefern die Konkurrenz am Hof Mediziner dazu zwang, ihr Sonderwissen zu explizieren und zu reflektieren, lässt sich besonders gut anhand der Pestepidemie der Jahre 1347 bis 1351 ablesen. Da ein wirksames Heilmittel fehlte, forderten die Herrschenden meist gleich von mehreren Medizinern Gutachten an, um die Ursachen der Krankheit zu ergründen.[78] Allzu viel Vertrauen in die gelehrte Medizin wurde derweil negativ beäugt; so kritisierten zeitgenössische Chronisten Papst Clemens VI., weil dieser sich auf den Rat seiner Leibärzte hin in seine Privatgemächer zurückgezogen hatte und von dort aus nur unter diversen Schutzmaßnahmen seine Amtsgeschäfte führte.[79] Angeblich, so erzählte man sich in Avignon, ließ der Papst auf Drängen seiner Mediziner sogar moralisch fragwürdige Leichensektionen an den Pesttoten durchführen.[80] Die Ratlosigkeit der gelehrten Medizin angesichts des Massensterbens führte schließlich dazu, dass sich medizinische Laien wie der Theologe Konrad von Megenberg oder der Dichter Francesco Petrarca auf dem Gebiet der Heilkunde versuchten und die Deutungshoheit der gelehrten Ärzte explizit in Frage stellten.[81] Zugleich schlug die Stunde von Heilkundigen, die für sich glaubhaft in Anspruch nehmen konnten, eingedenk ihres Sonderwissens über den Tellerrand ihrer medizinischen Tradition hinaus blicken und verschiedene Wissenskulturen miteinander verschränken zu können. Zu diesen Mediatoren zählte der päpstliche Leibarzt Guy de Chauliac, der vollmundig behauptete, sowohl Mediziner als auch Chirurg zu sein, aber Letztere aufgrund seiner universitären Bildung besser bewerten zu können als die einfachen Handwerker, die als Wundärzte tätig waren.[82] Guy vermochte sich allerdings nur deshalb als Mediator zu inszenieren, weil sein höfisches Publikum infolge der Pest damit begonnen hatte, die Produktion heilkundlichen Wissens sowie die damit verbundenen Traditionen externer Beobachtung zu unterziehen.

Wie die Beispiele demonstrieren, erlaubten neue Wissensbestände und neuartige Präsentationsformen Akteurinnen und Akteuren, für sich besondere Kompetenzen etwa im Spielen höfischer Spiele oder beim Heilen zu reklamieren. Dazu wurde akzentuiert, dass das jeweilige Sonderwissen nicht allgemein verfügbar, aber dennoch für Laien hochgradig nützlich war. Um das Interesse für sich und das eigene Wissen zu wecken, musste die beanspruchte Expertise so glaubhaft dargelegt werden, dass diese bei höfischen Entscheidungsträgern ohne großes Vorwissen auf Interesse und Akzeptanz stieß. Das allerdings machte angreifbar und war wiederum ein Anstoß für Wissens- und Expertenkritik.

3. Wechselseitige Erwartungen

Als soziale Systeme zielten die Höfe lateineuropäischer Herrscher darauf ab, Akteuren und Akteurinnen Wissen bereitzustellen, das ihr Handeln anleitete und ihnen zugleich half, das Verhalten anderer zu antizipieren. Auf diese Weise wurden soziale wie epistemische Relationen reguliert und stabilisiert. Wenn diese Generalisierung von Verhaltenserwartungen jedoch scheiterte, weil sie wiederholt enttäuscht wurden, konnten der jeweilige Hof oder seine Subsysteme selbst zum Gegenstand der Reflexion werden. In diesem Fall geriet meist die Erzeugung von Wissen innerhalb der dysfunktionalen Subsysteme in den Blick. Anschließend versuchten die Zeitgenossen entweder, das betroffene Subsystem zu modifizieren, etwa durch einen Wissenstransfer aus anderen gesellschaftlichen Feldern, oder aber sie reagierten mit der Schaffung neuer Institutionen, die neue Handlungsroutinen hervorbrachten und damit die Verhaltenserwartungen höfischer Akteure wieder stabilisieren sollten. Solche Veränderungen beschränkten sich jedoch nicht auf den Hof allein, weil dieser als Herrschaftsapparat an andere gesellschaftliche Teilsysteme gekoppelt war und somit auf sie einwirken konnte.

Durch die Wissensakkumulation höfischer Institutionen entstand jedoch nicht zwangsläufig ein höheres Maß an Erwartungssicherheit.[83] Beispielhaft zeigt sich das an der Planung von Kreuzzügen, mit der Könige und Päpste in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf den Verlust der letzten lateineuropäischen Besitzungen im Vorderen Orient reagierten. Die Kreuzzüge hatten im 13. Jahrhundert einen Prozess der zunehmenden Zentralisierung durchlaufen, der die Organisation von Fürsten und lokalen Akteuren auf Königshöfe und die geistlichen Ritterorden verlagerte.[84] Aufgrund dessen lösten die Niederlagen der Kreuzfahrer, zuvorderst der Fall von Akkon im Jahr 1291, eine Krise der Kreuzzugsinstitutionen und der von ihnen bereitgestellten Handlungsroutinen aus. Anders als in den vorangegangenen Jahrhunderten reagierten die Herrschenden auf diese Krisensituation mit der kritischen Reflexion etablierter Institutionen und begannen, den gesellschaftlichen Wissensvorrat aktiv nach Sonderwissen zu durchsuchen, das von Nutzen für den Kreuzzug sein könnte.[85] Davon zeugen über 30 erhaltene Memoranden, Traktate und Gutachten über die recuperatio Terrae Sanctae, welche Expertenratgeber im Auftrag von Königen und Päpsten verfassten.[86] Die Herrschenden holten Berater aus verschiedenen sozialen Milieus an ihre Höfe, um dort in gemeinsamen consilia oder deliberationes neue Rückeroberungspläne zu entwerfen und die Defizite bestehender Kreuzfahrerinstitutionen wie der Ritterorden zu überdenken.[87] Das Nachdenken über den Kreuzzug eröffnete damit Mendikanten und Juristen ebenso wie Rittern und Kaufleuten die Chance auf eine höfische Karriere. Ab den 1320er Jahren wurde die Tätigkeit dieser Experten selbst zum Gegenstand der Beobachtung: Sowohl an der Kurie unter Johannes XXII. als auch am französischen Hof unter Philipp VI. entstanden Sachverständigenkommissionen, die sich ausschließlich der Begutachtung von Rückeroberungsvorschlägen anderer Expertenratgeber widmeten.[88] In diesem Fall war das Auftreten dieser Beobachtungen zweiter Ordnung sicherlich nicht nur der Konkurrenz zwischen den Ratgebern geschuldet, sondern auch dem Umstand, dass in den höfischen Kreuzzugsplanungen Akteure aus unterschiedlichen Wissenskulturen aufeinandertrafen, ohne über ein gemeinsames Set an Bewertungsmaßstäben zu verfügen. Das Sonderwissen der Ratgeber scheint allerdings eher eine Vielzahl neuer Handlungsoptionen hervorgebracht zu haben, statt die Verhaltenserwartungen der Herrschenden zu stabilisieren, sodass die meisten Kreuzzugsunternehmen bereits in der Vorbereitungsphase an Risikoerwägungen scheiterten und die Rückeroberung letztlich nicht gelang.[89]

Wie unsicher und prekär die Stellung der Träger von Sonderwissen am Hof des römisch-deutschen Königs bzw. Kaisers sein konnte, zeigt das Beispiel der franziskanischen Gelehrten und des Marsilius von Padua im Umkreis Ludwigs IV. in München.[90] In der Auseinandersetzung zwischen dem König und den Avignoneser Päpsten spielten sie als Berater, die komplizierte Sachverhalte wissenschaftlich und juristisch abgesichert darlegen konnten[91], eine wichtige Rolle. Dem engeren Gefolge des Königs gehörten die Mitglieder der Gruppe trotz ihrer immensen Publikationstätigkeit allerdings nicht an. Michael von Cesena, Wilhelm von Ockham und die anderen Gelehrten lebten im Münchener Franziskanerkonvent, dessen konkreter Standort nach dem Stadtbrand von 1327 nicht bekannt ist.[92] Diese räumliche Entfernung drückte bereits eine gewisse Distanz zum Herrscher aus. Das wurde durch die Tatsache verschärft, dass München zwar ein beliebter Aufenthaltsort Ludwigs war, aber bei weitem nicht die Funktion einer „Hauptstadt“ erfüllte, die der Stadt in der älteren Forschung zugeschrieben wurde. Auf Grundlage der quantitativen Analyse der Ausstellungsorte der Urkunden Ludwigs lässt sich nachweisen, dass lediglich 19 % in München ausgestellt wurden, im Schnitt nicht mehr als in den Reichsstädten Frankfurt und Nürnberg.[93] Das lässt die Einflussmöglichkeiten des Wissens der franziskanischen Gruppe auf den Hof gering erscheinen, da es unwahrscheinlich ist, dass sie den Kaiser auf seinen Reisen durch das Reich begleitet hat. Es ist sogar fraglich, ob Wilhelm von Ockham und seine Gefährten München jemals verließen.[94] So werden die Mitglieder der franziskanischen Gruppe Ludwig eher selten zu Gesicht bekommen und daher auch nur geringen Einfluss auf die Tagespolitik ausgeübt haben. Sie waren nur eine von verschiedenen Beratergruppen und hatten am Hof eine eher randständige Position inne.[95]

Insbesondere die bayerischen Ratgeber Ludwigs konnten mit den an den Universitäten ausgebildeten Denkern kaum eine gemeinsame Linie finden. Denn diese setzten sich vor allem mit der für Laien nicht immer leicht verständlichen franziskanischen Armutsthematik auseinander und formulierten vielfach schwer nachvollziehbare und in ihrem Anspruch weitreichende politische Theorien. In der konkreten Reichspolitik hatten sie hingegen keinerlei Erfahrung.[96] Außerdem stand die Gruppe einer möglichen Aussöhnung mit dem Papsttum in Avignon im Wege. In Phasen intensiver Verhandlungen mit Johannes XXII. im Jahr 1331 und Benedikt XII. in den Jahren 1335/36 wurden die Minoriten dementsprechend mit einem „Publikationsverbot“ belegt und mussten sogar mit einer Auslieferung nach Avignon rechnen.[97] Ihre unsichere Position am Hof war zugleich von Vorteil für den Kaiser, weil sie die Abhängigkeit der Ratgeber von Ludwig erhöhte und auf diese Weise deren Loyalität nachhaltig sicherte. Indem er die franziskanische Gruppe unterstützte, schuf Ludwig an seinem Hof einen permanenten Pool an gelehrten Expertenratgebern, um so ein zwar häufig nicht unmittelbar praktisch umsetzbares Wissen am Hof generieren und auf dieses im Bedarfsfall legitimatorisch rekurrieren zu können. So holte der Kaiser die Meinung seines Beraterkreises zum Problem der Eheannullierung ohne päpstliche Mitwirkung im Ehestreit zwischen Johann Heinrich von Luxemburg und Margarete von Tirol ein. Margarete hatte am 2. November 1341 die Ehe wegen Impotenz des Mannes und des Nichtvollzugs für ungültig erklären lassen. Da verschiedene Umstände die Situation verkompliziert hatten, wurden 1341/42 sowohl Wilhelm von Ockham als auch Marsilius von Padua um ihre Einschätzung gebeten. Während Marsilius relativ simpel die Ehe zu einer rein weltlichen Angelegenheit erklärte und die vollständige kaiserliche Rechtsgewalt in Ehestreitigkeiten postulierte, wählte Ockham in der „Consultatio de causa matrimoniali“[98] eine differenziertere Position. Seiner Einschätzung nach war die Ehe eine von Menschen geschaffene Institution. Sie betreffe zwar kirchliches Recht, aber die Kirche selbst sei ja eine menschliche Institution. Deshalb könne der Kaiser in Notsituationen in juristische Ehefragen unter Berufung auf Sonderrechte eingreifen.[99] Die Ehe zwischen Margarete und Johann Heinrich wurde schließlich aufgelöst und die mit Ludwig von Brandenburg geschlossen. Inwieweit die Stellungnahmen der beiden Gelehrten bei der Entscheidungsfindung am Hof eine Rolle spielten, lässt sich nicht entscheiden; ihr Einfluss sollte aber nicht überbewertet werden. Die Einschätzungen der Gelehrten gaben dem Kaiser allenfalls eine oberflächliche und durchaus anfechtbare Legitimation für sein Handeln. Wenn die Forschung Wilhelm von Ockham für dieses Gutachten im Sinne des Herrschers heftig kritisierte, verkennt diese Bewertung die Sachzwänge, in denen sich der Franziskaner befand.[100] Sein Agieren war den realpolitischen Gegebenheiten in München geschuldet, derer sich der versierte politische Theoretiker nicht entziehen konnte. Wilhelms Beispiel illustriert, wie die Ratgebertätigkeit am Hof gelehrtes Sonderwissen veränderte, weil auch universitär gebildete Berater wie er nützliches Wissen erzeugen mussten, das sich in die (tages-)politische Lage einbetten ließ. Um solches eingebettete Wissen bereitstellen zu können und damit die prekäre Stellung gelehrter Ratgeber am Hof abzusichern, war wiederum die Beobachtung des Hofes, seiner Regeln und Institutionen unabdingbar.

Die Nutzung neuer Wissensbestände an den Höfen gestaltete sich mithin nicht als lineare Erfolgsgeschichte, vielmehr resultierten daraus immer wieder neue Herausforderungen, die zu reflexiven Bezugnahmen auf Wissen Anlass boten – und mitunter die Geltung des jeweiligen Wissens beschnitten. Die obigen Beispiele bestätigen die These, dass Höfe intern wie extern zu Beobachtungen zweiter Ordnung motivierten, weil sie als ein Ort der Konkurrenz fungierten. Um die Gunst des Fürsten zu gewinnen, einen Auftrag oder eine Anstellung zu finden, galt es, sich als besseren Ratgeber zu präsentieren und die eigene Problemlösekompetenz als überlegen zu behaupten. Da der jeweilige Fürst die zentrale Entscheidungsinstanz bildete, mussten potentielle Berater ihm Gründe vorlegen, warum das eigene Wissen demjenigen der Konkurrenten vorzuziehen war. Im Unterschied zur Kommunikation innerhalb der Grenzen von gelehrten oder anderen Wissenskulturen konnte Sonderwissen allerdings nicht durch etablierte Argumente und Autoritäten gerechtfertigt werden, sondern musste in eine für Laien nachvollziehbare Form gebracht werden. Dies machte es wiederum erforderlich, Kriterien zu finden, anhand derer Entscheidungen getroffen und verteidigt werden konnten. Zugleich galt es, Vorsorge zu treffen für den Fall, dass geweckte Erwartungen nicht erfüllt werden konnten.

4. Reflexionen

Beobachtungen zweiter Ordnung sind gleichermaßen Mittel und Resultat der Ausdifferenzierung von Wissen. Sie unterscheiden bestimmte Wissensbestände kategorial von anderen, differenzieren zwischen den jeweiligen Trägergruppen, trennen Sonderwissen von Alltags- und Allgemeinwissen. Auf diese Weise wird es möglich, Ausdifferenzierung reflexiv einzuholen und zu steuern. Derartige Reflexionen auf die Geltung, die Anwendbarkeit und den Nutzen von Wissen waren im 14. Jahrhundert weit verbreitet. In unserem Zusammenhang ist relevant, dass solche Überlegungen sich nicht auf ihre traditionellen Orte innerhalb der Gelehrtendiskurse beschränkten, sondern vermehrt in nichtuniversitären Kontexten auftauchten.[101] Wie das Beispiel Heinrichs von Mügeln bereits angedeutet hat, zeigten sich Reflexionen außerhalb der Universitäten und Studienhäuser zwar nicht selten informiert von den gelehrten Auseinandersetzungen, nahmen jedoch häufig eine andere Perspektive ein und führten eigene Kriterien an, anhand derer Wissen bewertet und kritisiert wurde. Dazu gehörte die Erwartung, Wissen habe nützlich und lebensweltlich zu sein, was in den Städten und insbesondere an den Höfen als zentralen Kontaktsystemen immer wieder eingefordert wurde. Hier übernahmen es Fürsten und ihr Umfeld zu beurteilen, welches Wissen gebraucht wurde und wer mit welchem Sonderwissen dieses Bedürfnis stillen konnte.

Kritische Prüfungen von Praktiken der Wissensgenerierung und -aneignung kommen im Spätmittelalter nicht ohne Überlegung zum Ethos der Wissenden oder der Wissenssuchenden aus.[102] Diskurse über die richtigen disziplinären Praktiken gehörten, oft mit polemischen Absichten und rekurrierenden Motiven bestritten, zur Ausformung gelehrter Kulturen.[103] Stellungnahmen solcher Art bedienten sich – zumindest in normativen Quellen – des Wortschatzes und der Begrifflichkeit der den ethischen Diskurs dominierenden Tugendlehren. Im 14. Jahrhundert prägte die (kontroverse) Rezeption der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles, wenn auch nicht ausschließlich, Reflexionen über die Ethik des Wissens. Zudem ging die zunehmende Ausdifferenzierung von Wissen mit einem klaren Bewusstsein unterschiedlicher disziplinärer „Sitten“ einher.

Beide Tendenzen spiegeln sich in der didaktischen Literatur über die Erziehung und Leitung von Fürsten: Um die Regierenden und ihre Berater in den Besitz jener Haltungen zu bringen, die das gute Regieren ermöglichten, entwickelte die Traktatliteratur eine Anzahl von Weisungen und Beschränkungen hinsichtlich der Wissensobjekte und Disziplinen, die in ausgezeichneter Weise zur Kultivierung der Herrschertugenden beitragen sollten. Welche Inhalte und Fertigkeiten als erstrebenswert galten und wie gelungener Wissenserwerb und korrektes Wissensmanagement dargestellt wurden, ist deshalb ein wichtiger Aspekt der Erforschung spätmittelalterlicher Fürstenspiegel unter dem Gesichtspunkt der Ethik des Wissens.

So lassen sich zum Beispiel die wissensethischen Überlegungen des Benediktinermönches Engelbert von Admont in „De regimine principum“ und „Speculum virtutum“ als Reflexionen zu den Arten, Formen und Aufgaben der Klugheit (prudentia) beschreiben.[104] In seiner Fürstenethik überragt die prudentia die anderen kognitiven Dispositionen aufgrund ihrer „Würde“ und „Nützlichkeit“ für die menschliche Gemeinschaft.[105] Intellektuelle und zugleich praktische Tugend, nähert sich die prudentia intellectualis der sapientia[106] und ist erforderlich für die „korrekte Durchführung wahrer Vernunftschlüsse über die menschlichen Güter“.[107] Dieser Auffassung entsprechen präzise Vorstellungen, welches besondere Wissen für eine gute Führung von Untertanen erforderlich sei: Engelbert zufolge sind drei Wissenschaften absolut notwendig, nämlich „die Dialektik […], die Rhetorik […] und die Ethik als Sitten- und Rechtslehre“[108], wobei ein Surplus philosophischen Wissens den Fürsten klüger machen könne. Das Wissensnetzwerk, in welchem die Lenkung der Gemeinschaft geschieht, knüpft sich demnach aus Experten des Nützlichen – des Denkens, der Sprache, der Sitten, der Normen.[109]

Engelbert stand mit seinen reflexiven Überlegungen zu Geltung und Anwendung von Wissen bei weitem nicht allein.[110] Provoziert wurden sie nicht zuletzt durch das Aufeinandertreffen von Autoritätenwissen und Ansprüchen, die aus bestimmten institutionellen Konfigurationen erwuchsen, etwa denen des Fürstenhofs. Das „Secretum secretorum“, eine Übersetzung des pseudoaristotelischen „Sirr al-Asrar“, war einer der Bestseller des Mittelalters. Der Text stellt Aristoteles als Quelle der Weisheit und als politischen Berater dar. Dies erlaubte es ihm, ein explizites und stabiles Paradigma von Wissen am Hof anzubieten. Mehrere Abschriften oder Übersetzungen des „Secretum“ wurden von Gelehrten angefertigt, die in der Ausbildung eines Monarchen oder eines jungen Prinzen eine Rolle einnahmen, die in etwa mit derjenigen des Aristoteles für Alexander vergleichbar war. So erstellte Walter Milemete eine Ausgabe für Edward III. Mit dem Rat des Aristoteles, so Walter zu Edward, „lernte König Alexander die philosophische Lehre, um sich und sein Reich […] erfolgreich zu regieren“.[111] Indem er sich als Brief von Aristoteles, dem Philosophen schlechthin, an Alexander den Großen, eine in der mittelalterlichen Kultur zentrale Herrscherfigur, präsentiert, übernimmt der Text eine paradigmatische Funktion in der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Herrscher und Beratern, des Verhältnisses zwischen Macht und Wissen und zwischen Fürsten und Experten. Aristoteles empfiehlt, Studien zu fördern, Schulen zu gründen, Kinder „in liberalibus et nobilibus scienciis“ zu unterrichten.

Übersetzungen in die Volkssprachen geben Aufschluss darüber, wie das „Secretum“ im 14. Jahrhundert interpretiert wurde. Leitend blieb die Aufmerksamkeit des Textes für die Rolle der Weisen und Gelehrten. Die deutsche Fassung von Gernpass empfiehlt etwa, die Weisen für ihre guten Ratschläge zu belohnen, „doch merkh wem du dein gut geist / […] den weisen durch ir cluge rat“.[112] Das Manuskript XVIII.71 der Biblioteca Nazionale von Neapel bietet den lateinischen Originaltext, aus dem die italienische Übersetzung erstellt wurde. Beide Versionen sind in zwei parallelen Spalten kopiert. Die Tatsache, dass die italienische Fassung parallel zum lateinischen Text steht, weist auf ihre Rolle als Dienerin in der Interpretation des Textes hin. Das Manuskript beginnt mit einem Bild, das Aristoteles als Alexanders Lehrer zeigt. Der Text empfiehlt den Herrschern, auf den Rat der „periti in arte astrorum“ (Experten in der Kunst der Sterne) zu vertrauen, die zu „omo savio in arte di stelle“ auf Italienisch werden.[113] Die Bedeutung bleibt dabei unverändert. Wie die fünf Sinne so brauche der König fünf Landvögte und Berater, um richtig zu handeln, aber der Prinz solle ihren Rat sorgfältig abwägen. Auch diese Botschaft übernimmt die italienische Fassung. Der Prinz benötige „scribes et scriptores“, Schriftgelehrte und Kopisten, die vollkommen in kunstvoller Redekunst seien und ein subtiles Gedächtnis hätten. In der italienischen Übertragung verschmelzen die Schriftgelehrten und Kopisten zur Kategorie von Schreibern (scrivani scriptori). Daran zeigt sich, dass die Vorstellungen von Wissen und Expertentum am Hof im lateinischen und italienischen Text gleich bleiben. Das im lateinischen Text formulierte Paradigma erfordert bei seinem Transfer in die Volkssprache aus Sicht der Übersetzer offenbar keine Adaption. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass die normativen Erwartungen an gutes herrscherliches Handeln im lateinischen und im volkssprachlichen Diskurs identisch sind: Es soll wissensbasiert sein und sich auf Experten stützen, die der Fürst mit seiner Gunst zu belohnen hat.

Während die Überlegungen Engelberts von Admont und die Rezeption des „Secretum secretorum“ Beispiele dafür bieten, dass Beobachtungen zweiter Ordnung verschiedene diskursive Sphären zu integrieren vermögen, können diese ebenso ein Mittel sein, die Geltung von Wissensbeständen herauszufordern und Alternativen zu positionieren.[114] Reflexion auf Wissen, seine Reichweite und Geltung dient im einen Fall mithin der diskursiven Integration, im anderen Fall der diskursiven Differenzbildung. Hierfür kann abschließend die Reaktion Papst Johannes’ XXII. auf zeitgenössische scholastische Theoriebildung ein Beispiel bilden. Am Avignoneser Papsthof war man im frühen 14. Jahrhundert mit den aktuellen universitären Debatten über die potentia Dei absoluta und die potentia Dei ordinata gut vertraut.[115] Belegt sind mehrere Disputationen an der Kurie, in denen erörtert wurde, inwiefern Gott der Ausübung seiner Allmacht selbst Grenzen setzen könne, indem er nur in geordneter Weise handele, also darauf verzichtete, die einmal gegebenen Regeln und Gesetze willkürlich durch Interventionen zu stören. Das Studium an der Kurie bildete den Transmissionsriemen, der die universitären Debatten an den Hof vermittelte. Dort nahm Johannes XXII. die Diskussionen in der ausdrücklichen Außensicht eines externen Beobachters zum Anlass, zum einen die verschiedenen disziplinären Machttheorien voneinander zu unterscheiden und zum anderen dem theoretischen Wissen mit dem des gelehrten Praktikers zu begegnen. 1333 referierte er in der Predigt „Deus autem, rex noster“ die begriffliche Unterscheidung zwischen Gottes potentia absoluta und potentia ordinata, die er als spezifisch für die Theologie präsentierte.[116] Er selbst nahm demgegenüber explizit die Position des Juristen ein, der von solchen begrifflichen Spielereien nichts halte. In seinem Vortrag ließ er einen Theologen auftreten und erläutern, dass die potentia Dei ordinata die Macht gemäß den Gesetzen sei, die potentia Dei absoluta jene Macht, die über die Gesetze hinausgehe. Darauf replizierte der Papst: „Bruder, das verstehe ich nicht, weil die besonderen Gesetze so anordnen wie die allgemeinen Gesetze, ja sogar viel besser.“[117] Die juristische Behauptung, wonach der Papst wie Gott durch die potentia absoluta handele, akzeptierte er ebenfalls nicht, wobei er sich nun auf sein Erfahrungswissen als Herrschender bezog. Grund dafür, dass der Papst Entscheidungen seiner Vorgänger oder auch seine eigenen korrigiere, sei nicht seine absolute Macht, sondern sein begrenztes Zukunftswissen: „Und wenn daher Zufälle und Notwendigkeiten unvorhergesehen eintreten, ist es erforderlich, dass andere Anordnungen in vielen Dingen getroffen werden.“[118] Die potentia Dei absoluta bezeichne in der theologischen Diskussion eine nicht vollzogene Macht – ein Konzept, das der Papst, der als Jurist, Legist und Herrschaftspraktiker gleichermaßen sprach, nicht akzeptieren wollte, da es theoretisch inkonsistent sei und an der Lebenswirklichkeit vorbeigehe. Er selbst sei gewohnt, so ließ er selbstreflexiv seine Hörer wissen, etwas aufgrund seiner Wirkungen zu benennen. Insofern könne es keine Macht geben, die zwar bestehe, aber nicht vollzogen werde. Aus der Amtsführung gewonnenes Erfahrungswissen in Verbindung mit gelehrtem Wissen berechtigte den Papst in seiner Sicht zur Wissens- und Gelehrtenkritik, die zugleich eine Reflexion auf Reichweite und Grenzen epistemischer und disziplinärer Wissenskulturen darstellte.

III. Ausblick

Reflexionen auf Wissen hatten unterschiedliche diskursive und soziale Folgen: Grenzziehung und Integration, Differenzierung und Entdifferenzierung. Bis zu einem gewissen Grad steuerbar waren solche Prozesse durch das Aufstellen von Kriterien, anhand derer Nutzen und Relevanz von Wissen bemessen wurden. Orientierung konnte gegeben werden durch das Festlegen von Zielen, denen Wissen und seine Anwendung zu dienen hatten. Diese Ordnungsversuche erfolgten von innen aus einer Wissenskultur selbst oder von außen, etwa vom Hof aus. Die beständige Konkurrenz von Wissenskulturen und ihren Trägerinnen und Trägern sowie von denjenigen, die potentiell dieses Wissen nutzten, führte jedoch zu Eigendynamiken, die sich der Kontrolle und Lenkung entzogen. Daraus erwuchs eine neue Unübersichtlichkeit, die man im Spätmittelalter gerne den Gelehrten anlastete. Die in diesem Beitrag postulierte Zunahme von Beobachtungen zweiter Ordnung in Bezug auf Wissen, seine Trägerinnen und Träger, seine disziplinäre Strukturierung sowie die institutionellen Räume, in denen es erzeugt, distribuiert und genutzt wurde, ist in ihren Wirkungen also nicht auf einen Sinn zu bringen. Zwar lässt sich im 14. Jahrhundert eine Ausdifferenzierung von Wissensbeständen und jener Gruppen feststellen, die sich als Träger des jeweiligen Sonderwissens profilierten und darüber neue Karriereoptionen erschlossen. Für die Zeitgenossen waren diese Prozesse aber weder unproblematisch noch in jedem Fall begrüßenswert. Wissen wurde in Konkurrenzverhältnissen profiliert. Höfe institutionalisierten diese Konkurrenz und provozierten gerade dadurch reflexive Bezugnahmen auf Wissen und Eigenarten und Vermögen jener Expertinnen und Experten, die es an die Höfe trugen. Eine vergleichbare Rolle spielten die Städte, für die ebenfalls eine Zunahme von Konkurrenz zwischen verschiedenen Gruppen festgestellt werden kann, die wiederum das Interesse an Expertise und dem Gebrauch unterschiedlicher Wissensbestände beförderte. Derartige Reflexionen führten keineswegs immer dazu, neue Wissensbestände zu affirmieren oder nutzen zu wollen. Möglich war ebenso, sie zurückzuweisen, indem ihre lebensweltliche Relevanz bestritten wurde und man andere Experten mit nützlicherem Wissen suchte. Mitunter wurden Versuche unternommen, hinsichtlich ihrer Gehalte, Geltungsansprüche und Trägergruppen ausdifferenzierte Wissensbestände zu reintegrieren, wozu wiederum Beobachtungen zweiter Ordnung für die Bestandsaufnahme wie für mögliche Lösungsstrategien erforderlich wurden.

Insofern soll dieser Beitrag kein Plädoyer für die These sein, im 14. Jahrhundert sei die Ausdifferenzierung von Wissensbeständen und Trägergruppen unumkehrbar geworden. Gerade die reflexiven Bezugnahmen durch Akteurinnen und Akteure außerhalb der jeweiligen Wissenskultur, die wir für ein Spezifikum spätmittelalterlicher Höfe halten, ermöglichten vielmehr unterschiedliche diskursive Operationen, die differenzierend und entdifferenzierend wirken konnten. Dabei wurden Grundlagen geschaffen, die im 15. Jahrhundert nicht nur zur weiteren Ausdifferenzierung von Wissensbeständen und sozialen Trägergruppen, sondern auch zu einer Intensivierung von Expertenkritik führten, die häufig mit Einfachheitsvorstellungen und Träumen einer neuen holistischen Weltsicht einherging.[119] Wenn bereits im 14. Jahrhundert Laien für sich reklamierten, besonders nützliches und in gelehrten Diskursen nicht zur Verfügung stehendes Wissen zu besitzen, verstärkte sich dieses Selbstbewusstsein im 15. Jahrhundert weiter. Dasselbe gilt für den Anspruch, Wissen auch von externer Warte aus hinsichtlich von Geltung, Nutzen und Anwendbarkeit bewerten zu können. Die Vertreter der humanistischen Bewegungen stellten etwa die eigenen Aussageweisen antagonistisch gegen die etablierten der universitären Scholastik, um für sich die Deutungshoheit über Wissen sowie dessen Anwendung zu reklamieren. So legitimiert versuchten sie, das gelehrte Feld nach ihren Ideen und zu ihrem Nutzen umzugestalten. Die Höfe boten sich hierbei ebenso wie die städtischen Eliten als Bündnispartner an, mit deren Hilfe man das Monopol der Universitäten, Bettelordensstudien und Klöster brechen wollte.[120] Das von uns festgestellte Bedürfnis, der Vielgestaltigkeit des Wissens mit Ordnungs- und Klassifizierungsversuchen zu begegnen, setzte sich ebenfalls im 15. Jahrhundert fort.[121] So wurde das aus der Beobachtung von Wissensbeständen gewonnene Wissen über das Alter(n) beispielsweise weiter systematisiert. Im 16. Jahrhundert entwickelte sich die Spezialgattung der Gerokomien, die während der Frühen Neuzeit eine Blüte erlebten.[122] Auch in anderen Bereichen entstanden solche ordnenden Textsorten. Hierzu zählen Fecht- und Tanzbücher, die höfische oder bürgerliche Konventionen kodifizierten[123], ebenso wie die Sentenzenkommentare des Dionysius Carthusianus, der weniger neue Einsichten bieten, sondern vorhandenes Wissen organisieren wollte.[124] Sonderwissen erschloss sich zugleich neue Anwendungsfelder jenseits der Wissenskulturen, in denen es entstanden war.

Die oben für die Untersuchung der Rolle von Wissen im 14. Jahrhundert vorgestellten Begriffe und Konzepte sollten folglich nicht nur auf diesen Zeitraum Anwendung finden, sondern sind im Gegenteil geeignet, weitere wissensgeschichtliche Dynamiken zu analysieren. Neben Höfen müssen dabei auch Städte als Arenen in den Blick genommen werden, in denen Trägerinnen und Träger unterschiedlichen Wissens miteinander konkurrierten und darauf hofften, als Expertinnen und Experten anerkannt zu werden. Dazu waren gute Argumente und eine überzeugende Strategie der Selbstpräsentation erforderlich – und damit eine Iteration selbstreflexiver Bezugnahmen auf das eigene Wissen und dasjenige der anderen. Aus unseren Überlegungen ergeben sich demnach zwei Perspektiven für weitere wissensgeschichtliche Forschungen zum Spätmittelalter: Zum einen wäre zu untersuchen, inwiefern sich analoge Prozesse der Ausdifferenzierung von Wissen und seiner Trägergruppen sowie der darauf bezugnehmenden reflexiven Beobachtungen in Städten, Zünften, Universitäten oder Klöstern zeigten. Auch diese konnten als Kontaktsysteme in der beschriebenen Weise agieren, gerade wenn sie sich neuen Wissensformen und Trägergruppen öffneten und damit zu Arenen epistemischer Rivalität wurden. Zum anderen wären die beschriebenen Entwicklungen zeitlich weiter bis in die Frühe Neuzeit zu verfolgen, wobei nicht nur nach linearen Fortschreibungen, sondern ebenso nach Brüchen und Gegenbewegungen zu suchen ist. Das 14. Jahrhundert könnte dabei als wichtige Phase in der vormodernen Wissensgeschichte erkennbar werden, die keinen Epilog zuvor begonnener Entwicklungen oder ein bloßes Präludium für Renaissance und Frühe Neuzeit darstellt, sondern sich durch Dynamiken auszeichnet, die der spezifischen geschichtswissenschaftlichen Beobachtung wert sind.

Zusammenfassung

An den Höfen der Könige, Päpste, Fürsten und Fürstinnen entwickelte sich im 14. Jahrhundert eine zunehmende Konkurrenz zwischen Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Bestände von Sonderwissen. Die Entscheidung, welches Wissen in welcher Form nutzbar war, verlagerte sich von den gelehrten Milieus auf Laien, an den Höfen auf Herrscher und Herrscherinnen und ihr Umfeld. Der offen ausgetragene Wettbewerb machte es erforderlich, die mit dem jeweiligen Wissensbestand verbundenen Geltungsansprüche, seine Gehalte und seinen möglichen Nutzen sowie die Positionen seiner Trägerinnen und Träger zu überprüfen. Die wachsenden epistemischen Rivalitäten ließen daher Wissen reflexiv werden. Diese Prozesse veranschaulicht der Beitrag anhand von Fallstudien zu ausgewählten lateineuropäischen Höfen.

Widmung

Dieser Beitrag geht zurück auf einen im März 2021 durchgeführten Workshop. Die vorgestellten Überlegungen verdanken sich der gemeinsamen Diskussion. Einleitung, erster Hauptteil und Schluss wurden hauptsächlich von Jan-Hendryk de Boer und Gion Wallmeyer verfasst. Alle Autorinnen und Autoren haben Fallstudien für den zweiten Hauptteil beigesteuert, die an der entsprechenden Stelle namentlich zugeordnet sind. Wir danken darüber hinaus Matthias Büttner und Tanja Skambraks für ihre Mitarbeit am Text. Wichtige Anregungen und Hinweise verdanken wir Frank Rexroth und Karl Ubl.

Online erschienen: 2023-12-01

© 2023 Walter de Gruyter, Berlin/Boston

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Downloaded on 3.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/hzhz-2023-0035/html
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