In der heutigen, sich rasant entwickelnden Welt der Medizin können wir uns glücklich schätzen, dass viele Krankheiten erkannt und erfolgreich behandelt werden können. Doch trotz der Fortschritte, die wir in der Medizinforschung gemacht haben, gibt es immer noch eine Gruppe von Erkrankungen, die oftmals im Schatten stehen – die sogenannten seltenen Erkrankungen. Obwohl jede dieser Erkrankungen für sich genommen selten ist, wird geschätzt, dass insgesamt etwa 350 Mio. Menschen weltweit und ca. 4 Mio. in Deutschland von einer seltenen Krankheit betroffen sind. In Europa wird eine Krankheit als selten eingestuft, wenn sie weniger als einen von 2000 Menschen betrifft.

In Deutschland sind ca. 4 Mio. Menschen von einer seltenen Krankheit betroffen

Für die Betroffenen und ihre Angehörigen können sie schwerwiegende Folgen auf den unterschiedlichsten Ebenen haben. Ein häufiges und belastendes Symptom, das vielen seltenen Erkrankungen gemein ist, sind die vielen Facetten des Schmerzes.

Auch als Orphan-Krankheiten bezeichnet, sind die seltenen Erkrankungen eine heterogene Gruppe, die von genetischen Störungen bis hin zu seltenen Infektionen, Intoxikationen und Autoimmunkrankheiten reicht. Dabei nimmt die genetische Komponente mit einem Anteil von etwa 80 % aller seltenen Erkrankungen eine besondere Schlüsselposition ein.

Die Diagnose seltener Krankheiten kann eine besondere Herausforderung darstellen. Aufgrund ihrer Seltenheit und Vielfalt können Medizinerinnen und Mediziner Schwierigkeiten haben, eine genaue Diagnose zu stellen, was oft zu Verzögerungen und Fehldiagnosen führt. Dieser Umstand wird als „diagnostische Odyssee“ bezeichnet. Um dieses Problem zu bekämpfen, werden häufig multidisziplinäre Ansätze und fortschrittliche genetische Tests angewendet. Hier helfen Zentren für seltene Erkrankungen. Aktuell gibt es 34 Zentren in Deutschland, die sich zumeist an den Universitätskliniken befinden (weitere Informationen unter www.se-atlas.de). Zentren für seltene Erkrankungen sind spezialisierte medizinische Einrichtungen, die sich auf die Diagnose, Behandlung und Erforschung von seltenen Krankheiten konzentrieren. Die spezifische Expertise und Konzentration auf seltene Erkrankungen in diesen Zentren sind notwendig, da solche Krankheiten oft schwer zu diagnostizieren und zu behandeln sind. Dies liegt daran, dass sie häufig sehr spezifische, manchmal einzigartige Symptome aufweisen und ihre Ursachen oft wenig verstanden sind. Darüber hinaus sind viele seltene Erkrankungen chronisch und lebensbedrohlich, mit einer hohen Rate an körperlichen Behinderungen und in einigen Fällen einer verkürzten Lebenserwartung.

Zentren für seltene Erkrankungen bieten eine umfassende Versorgung der Betroffenen, die in der Regel multidisziplinär ist. Dies kann Spezialisten aus Bereichen wie Genetik, Neurologie, Immunologie und anderen Fachdisziplinen einschließen. Darüber hinaus leisten diese Zentren auch wichtige Beiträge zur Forschung. Sie sammeln Daten über seltene Krankheiten, führen klinische Studien durch und entwickeln neue Therapien und Diagnosemethoden. Diese Forschung ist entscheidend, um das Verständnis und das Management für Betroffene mit seltenen Krankheiten zu verbessern. Des Weiteren spielen Zentren für seltene Erkrankungen auch eine wichtige Rolle in der Beratung und Unterstützung von Patientinnen bzw. Patienten und ihren Familien. Sie bieten Informationen und Ressourcen, um Betroffenen zu helfen, ihre Erkrankung zu verstehen und mit den Herausforderungen, die sie mit sich bringt, umzugehen. Viele Betroffene haben sozialrechtliche Fragen und Probleme (Schwerbehinderung, Pflegegrad, Hilfsmittel, Erwerbsminderung etc.), die wiederum die Symptomlast wie Schmerzen verstärken können. Insbesondere existenzielle Fragen haben einen großen Einfluss auf die Symptomlast, wie wir aus der palliativmedizinischen Forschung wissen. Einige Zentren bieten daher auch psychologische Unterstützung und Sozialberatung an. Nicht zuletzt stehen die Zentren gegebenenfalls für Rückfragen seitens des betreuenden medizinischen Personals in Wohnortnähe zur Verfügung.

Die Behandlung seltener Krankheiten ist ebenso komplex wie ihr Erscheinungsbild. Da viele dieser Erkrankungen chronisch verlaufen und Heilungsmöglichkeiten leider häufig begrenzt sind, liegt der Fokus oft auf der Linderung von Symptomen und der Verbesserung der Lebensqualität. Allerdings haben Fortschritte in der personalisierten Medizin und Genomik neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Therapien eröffnet. In diesem Zusammenhang sind Therapien wie Gentherapie und Zelltherapie vielversprechende Ansätze.

Auch darüber hinaus haben die letzten Jahre bedeutende Fortschritte bei der Erforschung seltener Krankheiten gebracht. Dazu gehören eine verbesserte genetische Testung, eine Zunahme klinischer Studien und eine verbesserte internationale Zusammenarbeit in Form von Patientenregistern und Forschungsnetzwerken. Trotzdem bleibt noch viel zu tun, um das Bewusstsein für seltene Krankheiten zu schärfen, Forschung und Entwicklung zu fördern und den Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung für die von seltenen Krankheiten betroffenen Personen zu verbessern.

Die Wichtigkeit eines grundsätzlichen Verständnisses des medizinischen Fachpersonals für die paradoxe Häufigkeit seltener Erkrankungen und der resultierenden Konsequenzen für unsere Patientinnen und Patienten kann also nicht hoch genug eingeschätzt werden. Unabhängig von der individuellen medizinischen Spezialisierung wird jede Medizinerin und jeder Mediziner im Laufe der beruflichen Laufbahn auf Betroffene einer seltenen Erkrankung stoßen. Um den von uns allen angestrebten hohen medizinischen Standard zu erfüllen, ist es angesichts der kollektiven Prävalenz solcher Krankheiten von entscheidender Bedeutung, in der Lage zu sein, Anzeichen zu identifizieren und richtungsweisende Merkmale zu erkennen, um gegebenenfalls zielgerichtete Überweisungen und diagnostische Schritte einzuleiten. Angesichts der großen Zahl seltener Erkrankungen und der Tatsache, dass täglich neue hinzukommen, kann hier der Anspruch nicht lauten, diese alle selbst zu kennen. Vielmehr geht es darum, Patientinnen und Patienten anzuhören, sie ernst zu nehmen und gemeinsam einen geeigneten Weg zur Diagnose zu suchen und dabei aber auch die eigenen Grenzen anzuerkennen. Gleichzeitig ist es für die Betroffenen sehr hilfreich, bereits in Form symptomatischer Maßnahmen Unterstützung zu finden. Hierzu gehört im Bedarfsfall auch eine symptomorientierte Schmerztherapie.

Das alles kostet Zeit und Nerven – Ressourcen also, die uns heute zunehmend fehlen. Der Mehrwert für unsere Patientinnen und Patienten ist jedoch immens.

Im besten Fall können Sie Ratsuchende durch Ihr aufmerksames und leitendes Handeln frühzeitig zur korrekten Diagnose und gegebenenfalls auch Therapie führen. Dies ist für alle Beteiligten ein Gewinn, denn die oben bereits zitierte „diagnostische Odyssee“, die Betroffene mit seltenen Krankheiten durchlaufen, führt zu erheblichen physischen, psychischen und finanziellen Belastungen, wohingegen eine frühzeitige Diagnose die Lebensqualität erheblich verbessern kann und einen rascheren Zugang zu benötigten Therapien und Unterstützungen ermöglicht.

Aber auch nach einer Diagnosestellung erfordert der Umgang mit Betroffenen einer seltenen Erkrankung häufig ein besonderes Maß der interprofessionellen Zusammenarbeit. Um diese zeit- und kosteneffizient zu gestalten, werden entsprechend digitale und institutionelle Strukturen geschaffen, um medizinisches Fachpersonal in die Lage zu versetzen, effektiv mit Spezialisten aus verschiedenen Bereichen zusammenzuarbeiten und eine koordinierte, umfassende Versorgung sicherzustellen. Angesichts des stetig wachsenden medizinischen Wissens mit der resultierenden zunehmenden Spezialisierung vor dem Hintergrund des fortschreitenden Mangels an medizinischen Fachkräften werden wir alle künftig auch jenseits der seltenen Erkrankungen auf derartige Strukturen und die Fähigkeit, diese zu nutzen, angewiesen sein.

Zusammengefasst verdeutlicht diese Diskussion die Notwendigkeit, die Ausbildung und das Wissen von Medizinerinnen und Medizinern im Bereich der seltenen Krankheiten zu verbessern, nicht nur zur Optimierung der individuellen Patientenversorgung, sondern auch zur Förderung der gesamten medizinischen Wissensbasis.

Aber wie genau lassen sich nun die Themen seltene Erkrankungen und Schmerz zusammenbringen? Die Verbindung zwischen seltenen Erkrankungen und Schmerz ist ein komplexes und vielschichtiges Thema. Bei vielen seltenen Erkrankungen kann der Schmerz direkt aus der Erkrankung selbst resultieren, etwa durch Entzündungen oder strukturelle Veränderungen im Körper. In anderen Fällen kann der Schmerz eine Folge von Begleiterkrankungen sein oder durch die Behandlungsmethoden entstehen, die zur Linderung der eigentlichen Erkrankung eingesetzt werden.

Da Schmerzen bei seltenen Erkrankungen oft schwer einzuschätzen und zu behandeln sind, benötigen die Betroffenen eine individuelle und umfassende Schmerztherapie. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen medizinischen Fachrichtungen und den Betroffenen selbst. Leider stoßen viele Ratsuchende mit seltenen Erkrankungen und chronischen Schmerzen oftmals auf Unverständnis und mangelnde Expertise im medizinischen Umfeld.

In diesem Themenschwerpunkt wollen wir das Bewusstsein für die Thematik der seltenen Erkrankungen und die damit verbundenen Schmerzformen stärken. Wir werden uns eingehend mit verschiedenen seltenen Erkrankungen befassen und die Herausforderungen beleuchten, denen sich Betroffene und medizinisches Fachpersonal gegenübersehen. Wir zeigen aber auch neuartige diagnostische Methoden, die den Weg zur Diagnose verkürzen sollen und zukünftig in der täglichen Routine eingesetzt werden können. Unser Ziel ist es, ein besseres Verständnis dieser komplexen Zusammenhänge zu schaffen und Wege aufzuzeigen, wie Betroffene und ihre Angehörigen besser unterstützt werden können.

Wir hoffen, dass wir mit den Beiträgen in diesem Schwerpunktheft Ihr Interesse an diesem wichtigen Thema anregen werden, und freuen uns, wenn Sie künftig Ihren Blick auch auf die Kolibris, Zebras und Chamäleons der Medizin richten.

Univ.-Prof. Dr. med. Martin Mücke

Dr. med. Natalie Börsch